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Aus: Ausgabe vom 24.10.2019, Seite 3 / Schwerpunkt
Verfassungsschutz-NSU-Skandal
Untersuchungsauftrag Temme
Rechter Terror und Geheimdienste: Hessischer Ex-V-Mann-Führer wird mit zwei Mordfällen in Verbindung gebracht
Von Claudia Wangerin
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Andreas Temme nach einer Befragung durch den NSU-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags 2016
Hintergrund: Schwarz-grüne und andere Loyalitäten
Seit dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) im Juni dieses Jahres ist das hessische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) wieder in Erklärungsnot, denn über den mutmaßlichen Haupttäter Stephan Ernst gab es dort mehr Material als zunächst eingeräumt. Auch die personellen Bezüge zum Komplex »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) treten immer deutlicher hervor.
Es wird nicht still um Andreas Temme, den ehemaligen V-Mann-Führer des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz (LfV), der im Jahr 2006 kurzzeitig offiziell Hauptverdächtiger im Mordfall Halit Yozgat war. Nachdem vergangene Woche bekannt wurde, dass Temme dienstlich mit dem Neonazi Stephan Ernst befasst war, der zur Zeit wegen des Mordes an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Untersuchungshaft sitzt, steht ein neuer Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag an. Darüber sind sich zumindest die Oppositionsfraktionen von SPD, Die Linke und FDP einig.
Um die Rolle des Verfassungsschutzbeamten im Dunstkreis rechter Terrornetzwerke zu klären, sei ein solcher Ausschuss »fast unumgänglich«, erklärte Ende letzter Woche der innenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Hermann Schaus, der in der letzten Wahlperiode Obmann seiner Fraktion im Untersuchungsausschuss zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) war. Er frage sich aber auch langsam »ob die Vorgänge im Landesamt für Verfassungsschutz eher ein Fall für die Justiz oder für einen neuen Untersuchungsausschuss sind«, so Schaus.
Zuvor hatte Innenminister Peter Beuth (CDU) den Innenausschuss des Landtags informiert, dass Temme bereits vor 2006 mit dem späteren mutmaßlichen Lübcke-Mörder »dienstlich befasst« gewesen sei. Es seien »zwei Berichte in der Personenakte von Stephan E. im Jahr 2000 mit dem Namen Temme gezeichnet«, fügte Beuth nach der Sitzung per Pressemitteilung hinzu.
Brisant wird dieser Bezugspunkt auch dadurch, dass Walter Lübcke, der zum asylrechtsfreundlichen, antifaschistischen Flügel der CDU gehörte, nach Temmes Versetzung ins Regierungspräsidium Kassel dessen Chef war. Der heute 52jährige Temme soll nach Aussage eines früheren Nachbarn in jungen Jahren den Spitznamen »Klein-Adolf« getragen haben. Als er später unter Mordverdacht stand, wurde bei Hausdurchsuchungen auch entsprechende Literatur gefunden – etwa »Judas Schuldbuch – eine deutsche Abrechnung« und Lehrmaterial der SS. Außerdem hatte er mehrere Seiten aus Hitlers »Mein Kampf« abgetippt. Er selbst erklärte das als »Jugendsünden« und bezeichnete sich politisch nur als »konservativ«.
Darüber hinaus ist Temme Sportschütze und trieb sich zeitweise zumindest privat im Umfeld der Rockervereinigung »Hells Angels« herum. Das jedenfalls räumte er in Befragungen ein, denen er sich nach der Aufdeckung des NSU als Zeuge vor Gericht und in Untersuchungsausschüssen stellen musste. Ob er im LfV auch einmal dienstlich im Bereich der Organisierten Kriminalität eingesetzt war, in die Mitglieder der »Hells Angels« häufig verwickelt sind, ist nicht bekannt.
SV Babelsberg 03 am 27.10.
Nach der Ermordung von Halit Yozgat am 6. April 2006, die Temme im Internetcafé des Opfers angeblich nicht bemerkt hatte, war es eine Sperrerklärung des damaligen Landesinnenministers und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU), die den Geheimdienstler vor polizeilichen Ermittlungen schützte. Erst nachdem die rassistische Mordserie, deren letztes Opfer Halit Yozgat geworden war, Ende 2011 dem NSU zugeordnet worden war, musste Temme mehrfach in Untersuchungsausschüssen und vor Gericht aussagen.
Nach seiner eigenen Version hatte Temme das Café nur privat aufgesucht, weil seine damals schwangere Frau nichts von seinen erotischen Chats mitbekommen sollte. Die beiden schallgedämpften, aber keineswegs geräuschlosen Pistolenschüsse auf den 21jährigen will er nicht gehört haben. Noch Sekunden vor der Tat war er an einem der Rechner eingeloggt, danach suchte er angeblich den jungen Besitzer, um zu bezahlen. Halit Yozgat muss zu diesem Zeitpunkt sterbend hinter der Theke gelegen haben – zumindest nach Aussage seines Vaters kann er noch nicht tot gewesen sein: »Er starb in meinen Armen«, sagte Ismail Yozgat später vor Gericht. Kurz bevor der Vater seinen Sohn fand, sah und hörte der in Sachen Observation geschulte V-Mann-Führer Temme angeblich nichts, als er Münzgeld auf die Theke legte.
Dank Bouffiers Sperrerklärung konnten die Kriminalbeamten damals Temmes V-Leute nicht vernehmen – obwohl er mit einer dieser »Quellen« am Tag des Mordes auffällig lange telefoniert hatte. Wie inzwischen bekannt ist, handelte es sich dabei ausgerechnet um den V-Mann Benjamin Gärtner – angeblich Temmes einziger V-Mann im Bereich Rechtsextremismus, während er weitere im Bereich Islamismus geführt hatte. Dass Gärtner den späteren Lübcke-Mörder Stephan Ernst als »NPD-Stephan« kannte, ist durch Befragungen im NSU-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags in der letzten Wahlperiode bekannt.
Der Anwalt von Stephan Ernst hat gegenüber einem großen Medium erklärt, sein Mandant sei mit Gärtner »gut bekannt« gewesen. Es habe zwar keinen direkten Kontakt zwischen Ernst und Temme gegeben. Allerdings sei »in Gesprächen zwischen Ernst und dem rechtsextremen V-Mann auch der Name von Verfassungsschützer Temme gefallen«, zitierte Spiegel online vergangene Woche den Dresdner Strafverteidiger Frank Hannig.
Nach Meinung des Linke-Politikers Schaus stehen damit strafrechtliche Ermittlungen gegen Gärtner an: »Erstens ist dem V-Mann Gärtner unter Strafandrohung untersagt, mit irgendwelchen Personen über seine V-Mann-Tätigkeit zu reden, auch nach Beendigung der Tätigkeit. Doch dies hat Gärtner offensichtlich mehrmals gegenüber dem militanten Neonazi und mutmaßlichen Lübcke-Mörder getan. Dabei hat er sich ausgerechnet auch über seinen wegen des NSU-Mordes von Kassel unter Mordverdacht geratenen V-Mann-Führer Temme ausgetauscht«, erklärte Schaus am Freitag.
Zu untersuchen wäre allerdings, in welcher Eigenschaft Temme in diesen Gesprächen beschrieben wurde – als V-Mann-Führer oder als »Kamerad«? Von Neonazi zu Neonazi – oder von V-Mann und V-Mann?
Als Beschuldigter hätte Benjamin Gärtner ein Aussageverweigerungsrecht. Im Münchner NSU-Prozess war er als Zeuge verpflichtet, die Wahrheit zu sagen, hatte aber einen vom LfV Hessen bezahlten Anwalt an seiner Seite. Im Beisein dieses Zeugenbeistands berief sich Gärtner bei der Befragung im Dezember 2013 auf große Erinnerungslücken durch exzessiven Alkoholkonsum in der fraglichen Zeit.