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Zu den Phänomenbereichen im Einzelnen:
Rechtsextremismus
Das rechtsextremistische Personenpotenzial in Niedersachsen ist wieder leicht rückläufig (von 1.750 auf 1.730). Auch im traditionellen Rechtsextremismus wirkt die Pandemie als Katalysator für die bereits seit Jahren beschriebenen Trends: Die Marginalisierung der neonazistisch geprägten Parteien „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) und „Die Rechte“ sowie die wachsende Zerfaserung innerhalb der neonazistischen Szene.
Minister Pistorius: „Auch wenn das Personenpotenzial im Rechtsextremismus leicht zurückgegangen ist: Der Rechtsextremismus ist weiterhin die größte Gefahr für unsere Demokratie. Der sinnlose und historisch verblendete Hass in dieser Szene kann sich immer wieder auf furchtbarste Weise entladen, das haben Anschläge und Amoktaten der vergangenen Jahre mehrfach schmerzhaft bewiesen.“
Im Zuge der Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat sich eine neue Mischszene von Coronaleugnerinnen und -leugnern sowie Querdenkerinnen und -denkern mit Rechtsextremistinnen und -extremisten sowie Reichsbürgerinnen und -bürgern gebildet. Sie wurde im Mai 2021 unter der Bezeichnung „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“ zum Verdachtsobjekt des Niedersächsischen Verfassungsschutz bestimmt. Der Verfassungsschutz wird diese Szene genau daraufhin analysieren, ob sich hier ein neuer Extremismus eigener Art („Extremismus sui generis“) entwickelt.
Mit der zunehmenden Verbreitung altbekannter Verschwörungstheorien, insbesondere über die sozialen Medien, ist auch der Antisemitismus noch stärker präsent. Ungehemmt werden in gewissen Kreisen antisemitische Parolen formuliert, die den Kern fast jeder Verschwörungserzählung bilden. Teilweise wurden gewisse Symbole insbesondere in Kreisen der Querdenkerinnen und Querdenker etwa bei Demonstrationen dafür genutzt, sich als Opfer zu stilisieren und auf eine Stufe mit den Verfolgten und Ermordeten des Holocausts zu stellen. Das Niedersächsische Innenministerium hat vor diesem Hintergrund im Februar 2022 einen Erlass veröffentlicht, in dem die Polizeidirektionen und die Versammlungsbehörden angewiesen wurden, das Tragen dieser Symbole konsequent zu unterbinden und bei derartigen Vorkommnissen entsprechende Strafverfahren einzuleiten.
Minister Pistorius: „Wer derartige Symbole verwendet, verlässt den Bereich der legitimen Meinungsäußerung auf unerträgliche Weise, verharmlost die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und verachtet deren Millionen Opfer.“
Obwohl sich die parteiinterne AfD-Strömung „Der Flügel“ formal bereits zum 30.04.2020 aufgelöst hat, beeinflussen die ehemals dort handelnden Akteurinnen und Akteure die Gesamtpartei weiterhin. Ein Treffen von „Flügel“-Anhängerinnen und -Anhängern am 20.02.2021 in Verden mit dem Ziel, Strukturen des „Flügels“ in Niedersachsen zu reaktivieren, bestätigen, dass informelle Strukturen und Einfluss weiterhin gegeben sind. Das Verwaltungsgericht Köln hat in seiner Entscheidung vom 08.03.2022 bestätigt, dass sich aus dem Agieren des „Flügel“ tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen ergeben. Zudem hat das Gericht Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip und Verletzungen der Menschenwürde festgestellt. Mit der Verwendung von Begriffen wie „Systempresse“ oder „Systemparteien“ bzw. „Kartellparteien“ werden zudem wesentliche Bestandteile der verfassungsmäßigen Ordnung diffamiert und infrage gestellt.
Neues Verdachtsobjekt: AfD Niedersachsen
Die ehemaligen Flügel-Angehörigen sind mit ihrem Gedankengut und ihren Zielsetzungen in die Parteistrukturen der AfD eingesickert. Darüber hinaus weist die AfD in Niedersachsen Kontakte, Bezüge und Verbindungen zu rechtsextremistischen Organisationen und Protagonisten auf. „Ich habe das Verdachtsobjekt eingerichtet, weil ich – auch unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – die weitere Entwicklung der Parteistrukturen in den Blick nehmen möchte. Deshalb habe ich mich für das Verdachtsobjekt entschieden, denn es dient der Sammlung be- und entlastender Argumente für und gegen die Beobachtungswürdigkeit der Partei“, so Verfassungsschutzpräsident Bernhard Witthaut.
Die Zahl der „Reichsbürgerinnen und Reichsbürger sowie Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter“ bleibt rückläufig (von 1.100 auf 900 Personen). Die Anzahl der Rechtsextremistinnen und -extremisten unter ihnen ist mit 50 jedoch konstant.
Neu ist das Sammelbeobachtungsobjekt „Völkische Personenzusammenschlüsse/ Völkische Siedler in Niedersachsen“. Unter dieses Sammelbeobachtungsobjekt fallen u. a. der „Bund für Gotterkenntnis (Ludendorff) e. V.“, „Die Anastasia-Bewegung“, „Der Freibund“, „Der Sturmvogel – Deutscher Jugendbund“ und die ehemalige, 2009 vom Bundesminister des Innern verbotene „Heimattreue Deutsche Jugend“ (HDJ).
Linksextremismus
Die Zahl der Autonomen und sonstigen gewaltbereiten Linksextremistinnen und -extremisten sowie Anarchistinnen und Anarchisten ist in Niedersachsen mit 800 Personen weitgehend konstant geblieben.
Die Militanz der linksextremistischen Szene bewegt sich weiterhin auf hohem Niveau. Die Brandanschläge auf die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen am Standort in Braunschweig und der versuchte Brandanschlag auf das Gebäude des Dienstortes in Hannover-Langenhagen vom Januar 2021 bestätigen diese Einschätzung.
Auch temporäre Hausbesetzungen zeigen, dass das Thema „Antigentrifizierung“ – so wie
z. B. insbesondere in Berlin oder Leipzig – auch für die niedersächsische autonome Szene an Bedeutung zunimmt.
„Antifaschistische Aktionen“ konzentrieren sich vornehmlich auf Sachbeschädigungen und Übergriffe gegenüber Mitgliedern sowie Funktionärinnen und Funktionären der „Alternative für Deutschland“ (AfD).
Islamismus
Das salafistische Personenpotenzial in Niedersachsen stagnierte im Jahr 2021 bei etwa 900 Personen, die Tendenz ist aktuell rückläufig.
Durch die Verurteilungen und teilweise langfristigen Inhaftierungen von bekannten Führungspersönlichkeiten ist die salafistische Szene nachhaltig geschwächt worden.
Die jihadistische Propaganda ist weiterhin sehr virulent, sodass eine latente Anschlagsgefahr durch den islamistischen Terrorismus besteht. So verletzte am 04.09.2021 ein 29-jähriger Afghane in Berlin eine Person lebensgefährlich. Am 06.11.2021 stach ein 27-Jähriger in einem ICE unvermittelt auf vier Mitreisende mit einem Messer ein und verletzte sie schwer. Neben islamistischen Motiven zeigten beide Täter psychische Auffälligkeiten.
Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und der Beginn der Errichtung eines islamistischen Gottesstaates auf Grundlage der Scharia wurde propagandistisch als Beginn eines Siegeszugs gegen die westliche Kultur glorifiziert. Ihre islamistische Ideologie sahen deren Anhängerinnen und Anhänger damit bestätigt.
Die „Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft e. V.“ in Braunschweig (DMG) hat sich als überregionaler Anlaufpunkt für salafistische Prediger sowie Besucherinnen und Besucher etabliert. Über ihre vielfältigen Online-Angebote und zahlreichen Initiativen für Dawa-Aktionen hat die DMG Braunschweig bundesweite Bedeutung.
Auch der schiitische Islamismus zeigt verstärkte Aktivitäten. Dabei sind zunehmend inhaltliche Überschneidungen mit dem Rechtspopulismus festzustellen, indem z. B. Kritik an den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und der Genderpolitik oder die Verteidigung des russischen Angriffskrieges in den thematischen Mittelpunkt gestellt werden.
Extremismus mit Auslandsbezug
Das Mitgliederpotenzial der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) liegt weiterhin bei ca. 1.600 Personen. Der türkisch-nationalistischen „Ülkücü- (Idealisten-) Bewegung“, auch Graue Wölfe genannt, gehören weiterhin ca. 700 Personen an.
Nach der Veröffentlichung des Gerüchtes, der PKK-Gründer Abdullah Öcalan sei verstorben, gab es zahlreiche Protestaktionen von PKK-Anhängerinnen und -Anhängern. Auf den Beginn der Militäroperation der türkischen Streitkräfte „Krallenblitz“ im Nordirak reagierte die PKK ebenfalls mit Protesten. Die Geschäftsräume der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung wurden am 28.05.2021 besetzt, genauso wie der Eingangsbereich des Norddeutschen Rundfunks am 20.11.2021. Außerdem war festzustellen, dass sich die Spannungen zwischen den Anhängerinnen und Anhängern der „Ülkücü-Bewegung“ und der PKK verschärften.
Spionageabwehr
Die Handlungsschwerpunkte russischer Geheimdienste lagen auch schon im Vorfeld des völkerrechtswidrigen Angriff Putins auf die Ukraine in der Verbreitung von Desinformationen zur Einflussnahme auf die öffentliche Meinungsbildung. Darüber hinaus sind Informationen aus dem Hochtechnologiebereich für russische Akteurinnen und Akteure interessant.
Der mutmaßlich belarussische Akteur „Ghostwriter“ hat zudem in der Vergangenheit bereits mit sogenannten „Hack and Leak“ oder „Hack and Publish“ -Operationen versucht, Einfluss auf das öffentliche Meinungsbild zu nehmen. So sind niedersächsische Politikerinnen und Politiker oder Personen mit Bezügen zum Niedersächsischen Landtag Opfer von Phishing-Angriffen geworden.
Bereits im Vorfeld der Bundestagswahl und besonders seit Kriegsbeginn in der Ukraine ist der Bereich der Cyberabwehr stark gefragt. Hintergrund ist auch eine höhere Sensibilität und eine niedrigere Meldeschwelle gegenüber den Behörden. Es liegen zunehmend konkrete Informationen vor, die auf staatlich gesteuerte Angriffe hinweisen. Häufig wurden kompromittierte Systeme festgestellt, die als Bestandteil eines Botnetzes gesteuert wurden, um wiederum andere IT-Systeme zu kompromittieren. Ein Beispiel ist die Cyclops Blink Malware des Akteurs „Sandworm“, der dem Russischen Nachrichtendienst „GRU“ zugeordnet wird. Die niedersächsische Cyberabwehr wirkte bei der Zerschlagung dieser Botnetze und der Identifizierung des Angreifers mit. Durch die Analyse kompromittierter Systeme werden sogenannte IOC’s (Indicators of Compromise) gewonnen und an Unternehmen der Kritischen Infrastruktur weitergegeben, um sie in die Lage zu versetzen, Angriffsversuche frühzeitig zu erkennen oder automatisiert zu verhindern.
Minister Pistorius: „Der völkerrechtswidrige Angriff Putins auf die Ukraine bedeutet auch eine neue Zeit für die Spionageabwehr. Akteurinnen und Akteure aus Russland, aber auch aus Belarus versuchen, mit Fakenews und Verschwörungstheorien Einfluss auf die Meinungsbildung in Deutschland zu nehmen. Kritische Infrastrukturen oder auch Unternehmen und Institutionen in Niedersachsen werden täglich angegriffen. Aus diesen Angriffsmustern lernen wir immer wieder neu, unsere Netze zu schützen. Die Sicherheitsbehörden werden auch zukünftig mit angemessenen Maßnahmen auf alle neuartigen, hybriden äußeren und inneren Gefährdungslagen reagieren.“
Verfassungsschutzpräsident Bernhard Witthaut ergänzt: „Die Intention hinter der Verbreitung von Fake News und Desinformation liegt darin, das Vertrauen in staatliche Institutionen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schwächen. Die Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen ist deshalb eine vorrangige Aufgabe des Verfassungsschutzes.“