Hm, so schlecht finde ich das Verbot jetzt gar nicht.
Und die Tradition auch nicht fragwürdig. Aufklärung, vermute ich mal.
Spoiler
Andere Städte waren zwar noch deutlich stärker zerstört. Doch lag Berlin 1945 nach zwei Jahren Luftkrieg und den rund zwei Wochen dauernden Kämpfen am Ende des Krieges einigermaßen gründlich in Trümmern. Von den rund 1,5 Millionen Wohnungen der Vorkriegszeit waren gut 500.000 völlig zerstört. Es wird geschätzt, dass sich von den 4,3 Millionen Berlinern des Jahres 1939 etwa 1,5 Millionen nicht mehr in der Stadt aufhielten.
Der Terror des Krieges hatte den Alltag zuletzt ganz gefangen genommen. Es lassen sich die Endphase-Verbrechen nennen, etwa die Tötung von Klaus Bonhoeffer (1901–1945) oder Friedrich Justus Perels (1910–1945) durch Beamte des Reichssicherheitshauptamts kurz vor ihrer nahenden Befreiung.
Während der Besetzung Berlins durch die Rote Armee soll es zu schätzungsweise 20.000 bis 100.000 Vergewaltigungen gekommen sein. Als die Kernmannschaft der späteren SED-Diktatur, die sogenannte "Gruppe Ulbricht" Ende April 1945 aus Moskau eingeflogen wurde, mochten die meisten ihrer Mitglieder in Zeuginnenberichten nur NS-Propaganda entdecken, wie Wolfgang Leonhard (1921–2014), der Jüngste der Gruppe, zehn Jahre später erzählte. Schließlich waren die Verkehrsinfrastruktur und die während der Kriegsjahre im besetzten Europa etablierte Raubwirtschaft, die bisher noch vergleichsweise gute Versorgung mit Kohle und Lebensmitteln zusammengebrochen.
In dieser Lage, die hinreichend von der Notwendigkeit geprägt war, das Überleben zu sichern und für eine Wiederherstellung von Recht und Ordnung zu sorgen, nahm sich die im Mai 1945 von der Besatzungsmacht eingesetzte Verwaltung Berlins jedoch auch Zeit für die möglicherweise doch weniger wichtigen Sachverhalte.
Neben Anordnungen zur ausreichenden Beleuchtung von Fahrzeugen bei Dunkelheit und Nebel – einschließlich der jetzt verbreiteten Handkarren – findet sich im Verordnungsblatt der Stadt Berlin vom 14. Januar 1946 auch eine Polizeiverordnung vom 11. Oktober 1945:
§ 1 Das entgeltliche Wahrsagen, die öffentliche Ankündigung entgeltlichen oder nichtentgeltlichen Wahrsagens sowie der Handel mit Druckschriften, die sich mit Wahrsagen befassen, ist verboten.
§ 2 (1) Wahrsagen im Sinne dieser Polizeiverordnung ist das Voraussagen künftiger Ereignisse, das Wahrsagen der Gegenwart und der Vergangenheit und jede sonstige Offenbarung von Dingen, die dem natürlichen Erkenntnisvermögen entzogen sind.
(2) Hierzu gehört insbesondere das sogenannte Kartenlegen, die Stellung des Horoskops, die Sterndeuterei und die Zeichen- und Traumdeutung.
Nach § 4 der Polizeiverordnung drohte für jedes einzelne Zuwiderhandeln ein Zwangsgeld von 150 Reichsmark, ersatzweise Zwangshaft bis zu drei Wochen.
Reagierten der alte Oberbürgermeister und der kommunistische Polizist auf Zeitbedürfnisse?
Die Polizeiverordnung trägt die Unterschriften des Berliner Oberbürgermeisters Arthur Werner (1877–1967) und des Polizeipräsidenten Paul Markgraf (1910–1993). Der promovierte Ingenieur Werner war bereits am 17. Mai 1945 vom sowjetischen Stadtkommandanten Nikolai E.Bersarin (1904–1945) als parteiloser Oberbürgermeister ernannt worden.
Paul Markgraf, ein hoch dekorierter Wehrmachtsoffizier, der sich während der sowjetischen Gefangenschaft für die kommunistische Sache hatte anwerben lassen, war am 30. April 1945 aus Moskau eingeflogen worden – am gleichen Tag, aber im zweiten Flugzeug nach der "Gruppe Ulbricht". Im Rahmen der KPD/SED-Strategie, in der zwar symbolisch die Macht mit bürgerlichen und sozialdemokratischen Politikern geteilt, Schlüsselstellungen jedoch von Moskau-treuen Männern (und seltenen Frauen) besetzt werden sollten, fiel ihm die anspruchsvolle Aufgabe zu, die Polizei der deutschen Hauptstadt zu befehligen – eine Rolle, in der er später als Katalysator der Teilung Berlins fungieren sollte.
Ein Mann aus der technischen Elite des Kaiserreichs und der Weimarer Republik sowie ein SED-Funktionär in spe mit Wehrmachtsvergangenheit – was diese beiden unterschiedlichen, aber doch ins Moskauer Kalkül passenden Herren veranlasste, sich im Oktober 1945 ausgerechnet mit einem Wahrsagerei-Verbot zu befassen, ist unklar.
Mit einiger Wahrscheinlichkeit erhöhte die allgemeine psychische Ausnahmesituation die Bereitschaft im Volk, sich mit dem Numinosen zu befassen. Ungezählte Menschen waren spurlos verschwunden, viele blieben es für immer. Mancher sah sich grundlos aus tödlicher Gefahr gerettet. Nachdem beispielsweise am 30. Januar 1945 die "Wilhelm Gustloff" mit rund 10.000 Menschen an Bord von einem sowjetischen U-Boot versenkt worden war, fühlten sich manche Frauen, die etwa für eine Evakuierung Danzigs auf dem Seeweg in Frage gekommen waren, daran erinnert, von ihrem "zweiten Gesicht" davon abgehalten worden zu sein, mit ihren Kindern dieses oder ein anderes Schiff zu betreten.
Bevor seit den 1980er Jahren der heutige Boom psychotherapeutischer Beratung einsetzte, nahm man Zuflucht zum Hergebrachten – Alkohol und Religion, Schlaf- und Schmerzmittel, sobald die chemische Industrie der Wirtschaftswunderjahre sie feilbot.
Ob in Ermangelung dessen im Herbst 1945 ein besonderer Regelungsbedarf für das Verbot der Wahrsagerei gesehen wurde, lässt sich jedoch nicht gesichert behaupten – allein schon deshalb, weil es bereits bestand. Vielleicht wollte sich die Behörde also auch einfach nur in dieser Sache bemerkbar machen.
Tradition der Wahrsagerei-Verbote in Deutschland bis 1965
Denn durch polizeirechtliche Allgemeinverfügungen, teils durch andere landesrechtliche Vorschriften waren das "Kartenlegen, die Stellung des Horoskops, die Sterndeuterei und die Zeichen- und Traumdeutung" bereits seit dem 18. Jahrhundert nahezu deutschlandweit untersagt worden.
Ein Beispiel für den Übergang zwischen den "Gaukelei"-Verboten aus einer Tradition des aufgeklärten Absolutismus hin zu modernen Regelungen gibt etwa das Polizeistrafgesetzbuch für Bayern vom 26. Dezember 1871. In Artikel 54 Abs. 1 heißt es dort:
"Wer gegen Lohn oder zur Erreichung eines sonstigen Vortheils sich mit angeblichen Zaubereien oder Geisterbeschwörungen, mit Wahrsagen, Kartenschlagen, Schatzgraben, Zeichen- oder Traumdeuten oder anderen dergleichen Gaukeleien abgibt, wird an Geld bis zu fünfzig Thalern oder mit Haft bestraft."
Die Vorschrift war damit im Recht der Übertretungen – der damals neben Verbrechen und Vergehen dritten Kategorie des Strafrechts – durchaus drakonisch gestaltet. So ermächtigteArt. 54 Abs. 2 dazu, alle Utensilien einzuziehen, die ein Wahrsager für seinen Beruf benötigte. Eine Strafandrohung von 50 Talern war, gemessen nicht nur an den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des "fahrenden Volks" erheblich. Bayerische Eltern, die ihren Kindern den verbotswidrigen Besuch von Wirtshäusern oder Tanzveranstaltungen gestatteten, hatten nur mit einer Geldstrafe bis zu zehn Talern (Art. 56) zu rechnen. Ärzte, die eine anzeigepflichtige Krankheit nicht meldeten, waren nur mit einer Geldstrafe bis zu 30 Talern bedroht (Art. 72).
Die deutlich höhere Strafandrohung für das Wahrsagen und andere "Gaukeleien" dürfte darauf zurückzuführen sein, dass sie regelmäßig nicht als stationäres, sondern als mobiles Gewerbe betrieben worden war – vom "fahrenden Volk", von Sinti und Roma, womöglich den Jenischen – also als eine seit dem neunten nachchristlichen Jahrhundert den "Zigeunern", dem vermeintlich aus dem magischen Ägypten zugewanderten Volk der Sterndeuter und Handleserinnen zugeschriebene Kunst.
BVerwG macht den Weg für die moderne Esoterik frei
Nach Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) aus dem Jahr 1965 war das entgeltliche Wahrsagen bis dato flächendeckend verboten, wobei nach dem "Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung" (1928) als maßgeblich angesehen worden sei, dass "nach damaliger Auffassung das meist von Frauen, auf dem Lande auch von Zigeunern ausgeübte Wahrsagen aus Karten, Schriftproben, den Linien der Hand usw. den Aberglauben förderte, zu Geldausgaben und nicht selten zu unzweckmäßigen, wenn nicht strafbaren Handlungen verleitete".
Zuletzt waren vielerorts im nationalsozialistischen Deutschland entsprechende Polizei-Verordnungen erneuert worden, sei es, weil der Wahn der Machthaber keine Esoterik neben der eigenen zuließ, sei es, weil "Zigeuner" verfolgt wurden – oder einfach nur, weil sich auch aufgeklärte Beamte nicht um die Qualität ihrer politischen Führung scheren, solange sie das vermeintlich objektiv Richtige durchsetzen hilft.
Im Fall eines Geschäftsmanns aus Bremen, der dem Gewerbeamt seine Arbeit in der Eheanbahnung, Astrologie, Graphologie, Hand- und Augendiagnose, der Ermittlung von "Biorhythmen" und "Tattwa-Berechnungen" angezeigt hatte – und dem daraufhin das entgeltliche Wahrsagen mit Blick auf die bremische Verordnung gegen das Wahrsagen vom 6. Oktober 1934 verboten worden war – ordnete das Bundesverwaltungsgericht auch derartige Tätigkeiten grundsätzlich dem weiten Berufsbegriff von Artikel 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) zu.
Dass das Wahrsagen aus "weltanschaulichen, religiösen, wissenschaftlichen oder sonstigen Gründen umstritten ist und von einem Teil der Gesellschaft nicht als eine wirklich sinnvolle Arbeit und als ein Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung gewertet" werde, führe für sich genommen nicht dazu, es schlechthin von der 1949 neu verbürgten Berufsfreiheit ebenso auszuschließen wie die Betätigung als "Berufsverbrecher" oder die "Ausübung der Gewerbsunzucht" (BVerwG, Urt. v. 04.11.1965, Az. I C 6.63).
Ob gut oder schlecht: Dieser würdige verfassungsrechtliche Grund ihrer Freigabe machte unkenntlich, dass für die neueren, oft schick ostasiatisch verpackten Esoterikangebote nunmehr möglich wurde, was noch am 11. Oktober 1945 in Berlin für die traditionellen Magier – etwa die hergebrachte "Zigeuner-Wahrsagerin" – erneut verboten worden war.