Nun ja, der Zweck einer Strafe hat im Laufe der Zeit gewechselt, wobei man genau sein muss: der vorherrschende Zweck der Strafe. Als denkbare Zwecke gibt es z. B. Rache, Vergeltung, Abschreckung, Wiederherstellung des Rechtsfriedens und Resozialisierung des Täters. Laut einer internationalen Vereinbarung ist heute, zumindest in der Theorie, die Resozialisierung des Täters der einzige Zweck der Strafe. In der Praxis sieht es wohl in den meisten Ländern doch ein wenig anders aus und werden andere der oben aufgezählten Zwecke faktisch mit verfolgt.
Was die Abschreckung angeht, also das wirksame Abhalten von (weiteren) Straftaten, so hat sich leider gezeigt, dass die Strafe an und für sich nicht viel dazu beiträgt. Namentlich hohe bis sehr hohe Strafen scheinen nicht wirklich abzuschrecken. Das Experiment wurde in der frühen Neuzeit durchaus gemacht, die Strafdrohungen erreichten Höchststände, zugleich waren die Staaten aber nicht in der Lage, Kriminalität flächendeckend zu bekämpfen, sodass einzelne harte Strafen eher exemplarischer Natur waren.
Die Geschichte lehr eher, dass die Wahrscheinlichkeit, bestraft zu werden, abschreckende Wirkungen entfaltet. Selbst eher geringe Strafen wirken abschreckend, wenn der mögliche Täter damit rechnen muss, dass er sehr wahrscheinlich bestraft werden wird. Allerdings wirkt dies natürlich nicht etwa gegen Taten im Affekt, da Affekt ja eben gerade das vernünftige Denken ausschaltet. Auch etwa gegen einen Menschen mit dissozialer Persönlichkeit wirken Strafdrohungen nicht, da er solche einfach nicht wahr nimmt.
Möglicherweise hat auch die Art der Strafe einen Einfluss auf die Abschreckung vor neuen Taten. Es scheint Hinweise darauf zu geben, dass insbesondere geringe Geldstrafen manche Täter nicht abschrecken. Wir kennen ja einige Beispiele, etwa Haverbeck, Dingo, Conrad oder auch Fatzke. Wenn Mama die Strafen bezahlt oder eine willige Community Spenden schickt, dann ist es halt nichts mit der abschreckenden Wirkung.
Da nun das Mittelalter angesprochen wurde, bewegen wir uns auf den Bereich der Schand- und Ehrenstrafen hin, allgemeiner gesagt: der sozialen Strafen. In meiner Heimat gab es einen ziemlich krassen Fall, der mich eins gelehrt hat: Soziale "Urteile" wirken immer stärker als Gerichtsurteile. In meiner Jugend gab es z. B. Leute, die sich die Heckscheiben ihrer Fahrzeuge mit gesammelten Strafzetteln wegen Falschparkens oder Geschwindigkeitsübertretungen zuklebten (was an und für sich auch nicht erlaubt war). Manchen Leuten galten sie gleichsam als "Helden", deren Fahrkünste bewundert wurden. Selbst Fahren in angetrunkenem Zustand galt diesen Kreisen als "Kavaliersdelikt", gegen "das Bierchen am Feierabend" konnte doch niemand etwas einwenden (wenn es denn wirklich nur das eine Bier gewesen war ...). Das Duell war seit seiner Entstehung wahrscheinlich Ende des 15. Jahrhunderts fast überall in Europa streng verboten, doch noch Anfang des 20. Jahrhunderts waren Duelle in der "guten Gesellschaft" zwar ein oft beklagtes Übel, aber alltäglich. Wer nach einem Duell erwischt wurde, durfte selbst dann, wenn er seinen Gegner getötet hatte, auf milde Richter - in der Regel Standesgenossen, die selbst Duelle durchgestanden hatten - bauen. Ein deutscher Offizier, der sich einem Duell verweigerte, wurde als Feigling angesehen und musste praktisch immer seinen Abschied nehmen, da er in der Armee nicht länger geduldet wurde. Erst das Ende der Adels- und Standesgesellschaft setzte dem Duellwesen ein Ende, da sich der betreffende Ehrbegriff schlicht in den Schützengräben des ersten Weltkrieges verflüchtigt hatte.
In meiner Heimat war es aber noch in den 1980er-Jahren möglich, vom höchsten Gericht im Land frei gesprochen zu werden, aber der sozialen Ächtung anheim zu fallen. Das ist auch heute in Deutschland möglich, wie viele weniger krasse Beispiele zeigen. Erinnert sei nur an den ehemaligen Bundespräsidenten Wulff, der zwar nichts Strafbares getan, aber seine ganze Autorität verspielt hatte.
In einer gewissen Zeit, beginnend gegen Ende des 16. Jahrhunderts, haben die entstehenden Nationalstaaten vor allem auf die Wirkung sozialer Strafen gesetzt. Dass soziale Ächtung sehr wirksam ist, hat sich im Lauf der Geschichte immer wieder gezeigt.
Genau hier liegt ja auch eines der grundsätzlichen Probleme im Umgang mit RD: Solange diese den Applaus Gleichgesinnter erhalten, prallen die heute üblichen Strafen an ihnen ab. Gerade Geldstrafen werden, wie oben erwähnt, oft genug mittels Spenden bezahlt. Darüber lacht dann der "Bestrafte", hat er doch den Staat ausgetrickst und zugleich seine Schäfchen geschoren. Sogar Haft kann zum Status eines Märtyrers führen.
Es wäre daher durchaus sinnvoll, wenn die Justiz dazu beitragen könnte, die vermeintlichen Helden zu entzaubern. Bei Plan hat dies, wie mir scheint, durch den Prozess recht gut funktioniert. Bei Ursache bin ich mir da noch nicht sicher. Bei Fatzke haben sich die Meinungen gespalten: Ein Teil seiner Sympathisanten scheint sich abgewendet zu haben, die öffentliche Meinung hat ihn abgeschrieben, aber der harte Kern scheint nach wie vor zu ihm zu halten. In seinem Fall ist also die Entzauberung nur teilweise gelungen.