Wolfgang Benz, einer der renommiertesten Historiker, hat sich den Text zur Analyse vorgenommen:
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Gaulands Einsichten sind nicht neu
Die Schuld am drohenden Verlust der Heimat trägt laut Gauland eine weltweit agierende Elite: „Ihre Mitglieder leben fast ausschließlich in Großstädten, sprechen fließend Englisch, und wenn sie zum Jobwechsel von Berlin nach London oder Singapur ziehen, finden sie überall ähnliche Appartements, Häuser, Restaurants, Geschäfte und Privatschulen. Dieses Milieu bleibt sozial unter sich, ist aber kulturell ‚bunt’.“ Beklagenswerte Folge, so Gauland, sei, dass „die Bindung dieser neuen Elite an ihr jeweiliges Heimatland schwach ist“. Und deshalb brauche es den Populismus und die AfD, in der sich bürgerliche Mittelschicht und Zukurzgekommene („einfache Menschen“) gegen das Establishment stemmen.
Gaulands Einsichten sind nicht neu. Vor bald hundert Jahren begann der Gefreite Adolf Hitler in München seine Mission für Volk und Heimat, gegen überstaatliche Mächte und internationale Verschwörer. Im November 1933, im ersten Jahr seiner Kanzlerschaft, warnte er in Berlin Siemens-Arbeiter vor der „kleinen wurzellosen Clique, die die Völker gegeneinander hetzt“. „Es sind das die Menschen, die überall und nirgends zuhause sind, sondern die heute in Berlin leben, morgen genauso in Brüssel sein können, übermorgen in Paris und dann wieder in Prag oder Wien oder in London, und die sich überall zu Hause fühlen.“ (Zuruf aus dem Publikum: „Juden!“)
Nicht der Wortlaut stimmt überein - aber die vorgetragene Ideologie
Die Hitlerrede am 10. November 1933 im Dynamowerk in Berlin-Siemensstadt ist als Film erhalten. Und der Wortlaut ist, dem Bundesarchiv sei Dank, transkribiert verfügbar. Keineswegs soll dem „FAZ“-Autor Gauland unterstellt werden, er habe wörtlich bei Hitler abgeschrieben. Wenig wahrscheinlich ist auch, dass ein anonymer Mitarbeiter dem vielbeschäftigten Parlamentarier als Ghostwriter geholfen hat. Trotz der auffälligen Übereinstimmung von Argumentation und Diktion handelt es sich aus formal-juristischen Gründen wohl nicht um ein Plagiat. Denn nicht der Wortlaut stimmt überein, sondern „nur“ die vorgetragene Ideologie.
Doch Gaulands Text ist ganz offensichtlich eng an den Hitlers angeschmiegt. Es handelt sich um eine Paraphrase, die so wirkt, als habe sich der AfD-Chef den Redetext des Führers von 1933 auf den Schreibtisch gelegt, als er seinen Gastbeitrag für die „FAZ“ schrieb. Dabei modernisierte er die Kritik an der „wurzellosen internationalen Clique“, indem er sie „globalistische Klasse“ nennt, für den heutigen Sprachgebrauch. Nach dieser Methode wird aus den Städten Berlin, Brüssel, Paris, Prag, Wien oder London, zwischen denen die Internationalen bei Hitler hin und her ziehen, bei Gauland Berlin, London und Singapur. Weitere Parallelen ergeben sich aus dem direkten Textvergleich.
Es weht derselbe Geist wie 1933
Damit wird offenbar, dass der eine so denkt wie der andere, dass die Vermutung zutrifft, bei der „Alternative für Deutschland“ handele es sich gar nicht um die verheißene Novität einer dringend nötigen Fundamentalopposition, sondern um einen aufgemotzten Ladenhüter – mit der völkischen Bewegung, der NSDAP und ihren Epigonen als Blaupause.
Bei Hitler hieß es über die von ihm geargwöhnten Drahtzieher gegen Deutschland: „Es sind die einzigen, die wirklich als internationale Elemente anzusprechen sind, weil sie überall Geschäfte betätigen können, aber das Volk kann ihnen gar nicht nachfolgen, das Volk ist ja gekettet an seinen Boden, ist gekettet an seine Heimat, ist gebunden an die Lebensmöglichkeiten seines Staates, der Nation. Das Volk kann ihnen nicht nachgehen.“ Und bei Gauland lesen wir über die Opfer der Globalisierung, es seien „diejenigen, für die Heimat noch immer ein Wert an sich ist und die als Erste ihre Heimat verlieren, weil es ihr Milieu ist, in das die Einwanderer strömen. Sie können nicht einfach wegziehen und woanders Golf spielen.“ Nach der Lektüre und der feierlichen Versicherung, man halte nicht alle AfD-Wähler für runderneuerte Nazis, darf man wohl doch vermuten, dass derselbe Geist weht wie einst 1933.
Es gibt auch Unterschiede
Um den gravierenden Unterschied nicht außer Acht zu lassen: In der NSDAP war Antisemitismus Kern der Ideologie. In der AfD gibt es auch Antisemiten, von denen sich die Partei aber trotz allen Händeringens nicht trennen mag. In der Hitlerpartei gab es jedoch keine Juden, weil die ja unter anderem an Hitlers Vorstellung von Globalisierung schuld waren. Das nannte man damals „Internationales Judentum“ oder „Alljudah“.
Die Populisten der Gaulandpartei sind liberaler. Seit neuestem gibt es eine Gruppe „Juden in der AfD“. Eine Handvoll nur, deren Berechtigung, sich Juden zu nennen, einer rabbinischen Prüfung möglicherweise nicht standhält. Eine Provokation, wie sie zum Geschäftsmodell der Populisten gehört, aber angesichts des Gleichklangs von Hitlerrede 1933 und Gaulandtext 2018 besonders bemerkenswert.
Der Autor ist Historiker und ehemaliger Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin.
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Eine Grenze überschritten?
Letzten Samstag erschien in der «FAZ» ein Text, unter dem es hiess: «Der Autor ist Parteivorsitzender der Alternative für Deutschland (AfD) und der Fraktionsvorsitzende im Bundestag.» Es handelte sich um Alexander Gauland. Anders als im Fall Putins oder des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der das Gefäss vorvergangene Woche bespielen durfte, erhob sich hinterher ein Proteststurm gegen die «FAZ»: Wer Gauland eine Bühne biete, mache sich mitschuldig am Aufstieg einer rechtsextremen Partei, lautete der Tenor auf Twitter und anderswo. Abonnemente wurden abbestellt – und die Kündigungen auf Facebook und Twitter öffentlich dokumentiert: Die «FAZ» habe die «Grenze zu Feinden unserer Demokratie» überschritten, schrieb etwa Ruprecht Polenz, ein früherer Generalsekretär der CDU. Dass Gauland, ob es einem gefällt oder nicht, einer relevanten politischen Partei angehört und dass daher nicht nur für seine Sympathisanten von Belang sein könnte, was er zu sagen hat, auf diesen Gedanken kam Polenz offenbar nicht.
In seinem Beitrag versuchte Gauland zu begründen, warum Populismus heute notwendig sei: Wirtschaft, Politik, Medien und internationale Organisationen würden von einer «globalisierten Klasse» dominiert. Deren Mitglieder lebten «fast ausschliesslich in Grossstädten, sprechen fliessend Englisch, und wenn sie zum Jobwechsel von Berlin nach London oder Singapur ziehen, finden sie überall ähnliche Appartements, Häuser, Restaurants, Geschäfte und Privatschulen».
Zwischen Hitler und Ulrich Beck
Einzelne Historiker fühlten sich von Gaulands Diktion an Adolf Hitler erinnert. Dieser habe im November 1933, im ersten Jahr seiner Kanzlerschaft, eine Rede vor Arbeitern der Berliner Siemens-Werke gehalten, schreibt Wolfgang Benz, der frühere Chef des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, im «Tagesspiegel». Darin habe Hitler von einer «kleinen wurzellosen Clique» geredet, «die die Völker gegeneinander hetzt», von «Menschen, die überall und nirgends zu Hause sind, sondern die heute in Berlin leben, morgen genauso in Brüssel sein können, übermorgen in Paris und dann wieder in Prag oder Wien oder in London, und die sich überall zu Hause fühlen». Natürlich wussten Hitlers Zuhörer, dass er damit die Juden meinte.
Parallelen zwischen Hitlers Worten und denen Gaulands kann man durchaus sehen. Doch dann müsste man fairerweise auch darauf hinweisen, dass die meisten Globalisierungskritiker, ob rechts oder links, gelegentlich ein wenig wie Hitler tönen. Das macht sie noch lange nicht zu Nazis oder Antisemiten: Womöglich hat sich Gauland ja auch von dem 2015 verstorbenen Soziologen Ulrich Beck inspirieren lassen, der 2009 der «Zeit» sagte, zu den Verlierern zählten «die Beschäftigten in Branchen, die regional verhaftet sind und die durch die Globalisierung in die Defensive geraten», während Globalisierungsgewinner «gezielt Ländergrenzen überschreiten und mit grossen Vorteilen rechnen» könnten.
Ein Kommentator im Leserforum des «Tagesspiegels» stiess am Mittwochmorgen gar darauf, dass Gauland ganze Passagen seiner Rede beinahe wörtlich aus einem Gastbeitrag des Autors Michael Seemann übernommen hatte, der 2016 ausgerechnet im «Tagesspiegel» erschienen war, jener Zeitung also, die Gauland nun am schärfsten angriff: Seemann hatte von einer Klasse berichtet, «die fast ausschliesslich in Grossstädten lebt, die so flüssig Englisch spricht wie ihre Muttersprache, für die Europa kein abstraktes Etwas ist, sondern eine gelebte Realität, wenn sie zum Jobwechsel von Madrid nach Stockholm zieht».
Von «Somewheres» und «Anywheres»
Ebenso gut könnte Gauland Anleihen bei David Goodhart genommen haben, einem früheren Deutschlandkorrespondenten der «Financial Times». Dieser veröffentlichte 2017 unter dem Eindruck des Brexit-Referendums und der Wahl Donald Trumps ein Buch, in dem er die westliche Welt ein wenig einfach und schematisch in «Anywheres» und «Somewheres» einteilte, in solche, die überall zu Hause seien, und solche, die sich an einem bestimmten Ort verwurzelt fühlten. Die «Anywheres» verdammte Goodhart keineswegs, eher forderte er von ihnen mehr Wertschätzung für die «Somewheres» ein, etwa durch eine Aufwertung der Berufslehre.
Dass Gauland anders als Beck und Goodhart mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert wird, hat er natürlich auch sich selbst beziehungsweise seiner Parteizugehörigkeit zuzuschreiben: Die AfD schafft es nicht, einen antisemitischen Verschwörungstheoretiker wie den baden-württembergischen Landtagsabgeordneten Wolfgang Gedeon auszuschliessen. Gauland selbst ist in der Vergangenheit durch Äusserungen aufgefallen, die einer Verharmlosung der Nazidiktatur gleichkommen, etwa, als er die zwölf Jahre Hitler-Diktatur einen «Vogelschiss» nannte. Dadurch, dass Gaulands Gegner nun auch in seinem «FAZ»-Beitrag auf Teufel komm raus geistige Anleihen bei den Nazis sehen wollen, tun sie sich allerdings kaum einen Gefallen: Ihre Kritik wirkt masslos und willkürlich, so dass der Eindruck entsteht, es gehe ihnen vor allem darum, einen politischen Kampf zu führen.
Wenn Links und Rechts sich treffen
Interessanter, weil entlarvender als Benz’ Kritik an Gauland ist übrigens die Replik Jakob Augsteins auf dessen Beitrag. Entlarvend allerdings eher für den prononciert linken «Spiegel»-Kolumnisten als für den AfD-Politiker. In seiner Globalisierungskritik stimmt Augstein Gauland weitgehend zu, ihn stört etwas anderes: Dass Gauland der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht bescheinigt, verstanden zu haben, dass man sich «gegen das Establishment» positionieren müsse, findet Augstein «ziemlich fies». Damit versuche der AfD-Chef, die Linke «in sein brackiges Fahrwasser» zu ziehen und eine «Querfront» herbeizuschreiben, die es in Wahrheit gar nicht gebe. Tatsächlich wird umgekehrt ein Schuh daraus: Der linke Populismus, dem Augstein das Wort redet, dürfte dem rechten, den Gauland praktiziert, am Ende ähnlicher sein, als Augstein wahrhaben will. Dass Gauland ihn daran erinnert, lässt Augstein aufheulen.