Das ist dasselbe Problem, das man in allen wissenschaftlichen Disziplinen hat: Es gibt Forschungsergebnisse, die eine bestimmte Erklärung nahe legen. Solange man nichts Besseres hat, stützt man sich halt darauf. Neue Ergebnisse stellen nun eventuell das Modell, das zur Erklärung der bisherigen Ergebnisse diente, in Frage, widerlegen es am Ende, eine neue Erklärung ist gefragt. Daraus ergeben sich dann auch neue Handlungsoptionen.
Je nach wissenschaftlicher Disziplin sind unsichere Ergebnisse, vorläufige Hypothesen und nur schwach abgestützte Erklärungsmodelle unterschiedlich heikel im Blick auf die Handlungspraxis. In der Astronomie oder in den meisten Geisteswissenschaften kann man damit gut leben, weil es keinen Zwang zu unmittelbarer Handlung gibt. Wenn man eine bestimmte Bahnabweichung nicht erklären kann, dann ändert dies an unserem Leben und unseren anstehenden Entscheidungen herzlich wenig. Auch wenn wir nicht wissen, wann das Nibelungenlied entstand, entsteht uns daraus kein unmittelbarer Nachteil. Beides bedeutet nicht, dass wir nicht weiter forschen, aber es hängt daran nicht das Wohl und Wehe der Menschheit (oder was auch immer).
Anders sieht es allerdings in der Medizin aus, aber etwa auch in der Jurisprudenz. Wenn ich einen Erbenstreit vor mir habe, den ich als Richter entscheiden muss, darf ich eine Entscheidung nicht verweigern, selbst wenn die verfügbare Quote (also der Anteil, über den der Erblasser letztwillig verfügen darf) eines gesetzestechnischen Versehens wegen nicht eindeutig aus dem Gesetzestext bestimmbar ist und diese Frage noch nicht höchstrichterlich oder wenigstens durch das im Instanzenzug übergeordnete Gericht beantwortet worden ist. Ich darf den Rechtsuchenden eine Entscheidung nicht verweigern, muss mich also für eine Lösung entscheiden und diese auch begründen - selbst auf das Risiko hin, dass meine Entscheidung sich als falsch herausstellt und von einer höheren Instanz umgestossen wird.
Auch in der Medizin kann man ja schlecht einem Patienten die Behandlung verweigern, nur weil die Evidenz nicht ausreicht oder möglicherweise bald durch neuere Erkenntnisse eine andere werden wird. Auch in der Medizin besteht immer das Risiko, dass sich eine Behandlung als falsch erweist. Das ist allerdings ein Risiko, das es im Leben bei jeder wichtigen Entscheidung gibt.