http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wirtschaft/international/36337_Islands-Kochtopf-Revolte-ist-zurueck.htmlVon Hermann Sileitsch
Fast drei Prozent der Bevölkerung auf der Straße.
Ex-Regierungschef Geir Haarde drohen bis zu zwei Jahre Haft.
Reykjavik/Wien. Ein paar Tausend Menschen auf der Straße sind in der Regel kein Volksaufstand. In Island schon: 8000 Demonstranten hätten sich eingefunden, um gegen die Rede zur Lage der Nation von Regierungschefin Johanna Sigurdardottir anzuschreien, schätzte die Polizei eher konservativ.
Umgelegt auf österreichische Verhältnisse wären das weit über 200.000 Protestierende.
Keine Rede mehr von kühlen Nordländern: Die Isländer trommelten und lärmten erneut mit allerlei Hausrat. Schon Anfang 2009 hatte die sogenannte Kochtopf-Revolution die damalige Regierung zum Sturz gebracht und Neuwahlen eingeleitet.
Jetzt wendet sich der Ärger gegen die seit Frühjahr 2009 regierende rot-grüne Koalitionsregierung von Sigurdardottir. Am Freitag mussten sie und ihre Ministerriege einen Eier-Hagel und Milch-Regen über sich ergehen lassen.
Viele Menschen haben ihre Ersparnisse wegen der Finanzkrise verloren und drohen nun wegen Zahlungsunfähigkeit das Dach über dem Kopf zu verlieren.
Von Beratern belogen
Ausgelöst wurden die Proteste durch die Entscheidung von vergangenem Dienstag, lediglich Ex-Ministerpräsidenten Geir Haarde wegen Amtsversagens als Verantwortlichen für den Zusammenbruch der Finanzwirtschaft vor Gericht zu stellen. Eine parlamentarische Kommission hatte hingegen gegen drei weitere Politiker Verfahren wegen "fahrlässigen" Handelns empfohlen. Außerdem blieben die in Familienclans organisierten Finanzmanager sowie der langjährige Ministerpräsident David Oddsson - nach Meinung vieler die Hauptverantwortlichen für die Krise - weitgehend unbehelligt.
"Diese Anklagen sind ein politisches Gemetzel und grenzen an politische Verfolgung", sagte Geir Haarde, dem zwei Jahre Haft drohen. Er sei von Beratern und Experten belogen worden, rechtfertigte er sich.
Island konnte vor zwei Jahren einen Staatsbankrott nur mit Notkrediten durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) vermeiden. Die nordatlantische Insel hatte von 2004 bis 2007 einen unglaublichen Wirtschafts-Boom erlebt: Gerade erst privatisierte und weitgehend unregulierte Banken blähten den Finanzsektor rasch und fast ungehindert auf. Der billige Zugang zu Krediten verursachte einen wahren Konsum- und Investmentrausch im Land: Die Preise von Wertpapieren stiegen rasant, die Inflation zog stark an. Die Zentralbank hielt mit hohen Zinsen dagegen, was zur flotten Aufwertung der Landeswährung Krona führte. Das verleitete viele Isländer, sich günstigere Kredite in ausländischer Währung zu verschaffen. Die Folge: Die Gesamt-Haushaltsverschuldung von Staat und Privaten stieg am Höhepunkt des Booms auf mehr als 600 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Internationaler Streit
Die Finanzkrise brachte das Kartenhaus zum Einsturz: 2008 kollabierten die drei größten Banken Kaupthing, Landsbanki und Glitnir. Die Krona verlor massiv an Wert, viele der 320.000 Einwohner büßten ihre Sparguthaben ein, die Arbeitslosigkeit stieg dramatisch.
Großbritannien und die Niederlande mussten Einlagen der Online-Bank Icesave garantieren. Die ausstehenden 3,9 Milliarden Euro, die Island zurückzahlen müsste, stellen die Bemühungen um einen EU-Beitritt in Frage. Der IWF sieht Islands Erholung in einem Länderbericht von Dienstag auf gutem Weg. Allerdings hatte der Vulkanausbruch im Frühjahr 2010 einen Rückschlag für den Tourismus gebracht - und auch der Finanzsektor sei noch nicht über den Berg.