Freitag, 03.06.2016
Hilfs-Sheriff an der Supermarktkasse
Wie der CDU-Bürgermeisterkandidat von Arnsdorf in Bürgerwehr-Manier mit einem Asylbewerber umspringt.
Von Ulrich Wolf und Nadine Steinmann
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Plötzlich tauchen vier Männer auf, gehen geradewegs auf den Asylbewerber zu, nehmen ihm die Flaschen weg und drängen ihn in Richtung Tür.
© Screenshot: YouTube
Plötzlich tauchen vier Männer auf, gehen geradewegs auf den Asylbewerber zu, nehmen ihm die Flaschen weg und drängen ihn in Richtung Tür.
Der Asylbewerber wehrt sich, wird von den Männern beschimpft und geschlagen. „Kriegst noch eene“, brüllt einer.
Der Anfang des Videos zeigt einen jungen Asylbewerber, der mit Weinflaschen in der Hand im Kassenbereich steht und mit einer Angestellten streitet.
Nur zweieinhalb Minuten dauert das Handyvideo. Es spielt in einer Filiale der Supermarktkette Netto in Arnsdorf bei Dresden. Ein junger schmächtiger Mann steht an der Kasse. Beigefarbene Shorts, graues T-Shirt, weiße Latschen, in der rechten Hand zwei Weinflaschen. Er ist Ausländer, Wortfetzen auf Arabisch sind auszumachen. An der Seite neben ihm versperrt ein Mann mit Schnauzbart den Weg zum Ausgang. Die Kassiererin sagt: „Du hast das vertelefoniert, für rund zehn Euro. Dann kannst du eine neue kaufen.“ Der junge Mann weicht zurück, die Kassiererin wird laut: „Stell die Flasche hin, nimm dein Telefon und geh!“ Spätestens jetzt könnte der Mann mit dem Schnauzer versuchen zu vermitteln, oder die Polizei rufen. Doch er unternimmt nichts; auch nicht dagegen, dass kaum drei Meter vor ihm jemand die Szenerie filmt.
Plötzlich tauchen vier Männer auf. Zwei kommen durch den Eingang. Schwarz gekleidet, groß, kräftig. Zwei weitere Männer kommen seitlich ins Bild. Sie müssen im Markt gewesen sein. Einer von ihnen trägt ein weißes T-Shirt. Das ist Gemeinderatsmitglied Detlef Oelsner, ein CDU-Mann und unterlegener Bürgermeisterkandidat bei den Kommunalwahlen im Juni 2015.
Ohne Vorwarnung packen sie den Ausländer, nehmen ihm die Weinflasche ab, führen ihn zum Ausgang. Dort beginnt er sich zu wehren, holt zu einem Tritt aus. Die Männer schlagen ihn, Oelsner dreht ihm den Arm um. Sie drücken ihn nieder. Einer schreit: „Was willst du von mir? Schwein du!“ Die Alarmanlage fiept los. „Raus mit dir!“, brüllt ein anderer. „Kriegst noch eene.“ Zu viert drängen sie den Ausländer aus dem Markt. Dann hört man eine weibliche Stimme aus dem Off, die deutlich sagt: „Ist schon schade, dass man eine Bürgerwehr braucht, oder?“ Es ist wahrscheinlich die Frau, die das Video gemacht hat.
Das Video ist am Dienstag ins Netz gestellt worden, unter anderem von der Facebook-Gruppe „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen“. Die wiederum gibt als Quelle „eine Bürgerwehr in Arnsdorf“ an. Im Netz verbreitet sich das Filmchen rasant. Bis zum Donnerstagnachmittag ist das Video fast 600 000-mal gesehen, 13 000-mal geteilt, 5 000-mal bewertet und 1 600-mal kommentiert worden.
Lynchjustiz oder Zivilcourage?
Der Vorfall an der Kasse des Supermarkts selbst liegt schon fast zwei Wochen zurück. Bei dem jungen Mann handelt es sich um einen 21 Jahre alten Flüchtling aus dem Irak. Er ist Patient im Arnsdorfer Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie und hatte in dem Netto-Markt abends am 20. Mai eine Telefonkarte gekauft, mit der er jedoch nicht klarkam.
Deshalb kam der Iraker am nächsten Tag, einem Sonnabend, nachmittags noch zweimal in den Supermarkt. Netto-Mitarbeiter und Flüchtling konnten sich nicht verständigen, es kam wohl zum Streit. In beiden Fällen wurde die Polizei gerufen, eine Streife brachte den Mann zurück ins Krankenhaus. Am Sonnabendabend tauchte der 21-Jährige gegen 18 Uhr dann ein drittes Mal auf, es kommt zu der Szene an der Kasse, die das Video zeigt.
Die Filialleiterin will vor der Aufzeichnung festgestellt haben, dass das Guthaben der Telefonkarte bereits aufgebraucht worden war. Daraufhin soll der Flüchtling in Rage geraten sein und sie sowie eine Mitarbeiterin mit einer Weinflasche bedroht haben. Das erzählte sie der Polizei, auf dem Video ist davon nichts zu sehen. Ermittelt wird gegen den Iraker dennoch: wegen Bedrohung.
Was auch nicht gefilmt wurde: Nachdem Christdemokrat Oelsner und seine Begleiter den Iraker nach draußen geführt haben, wird dieser auf dem Parkplatz mit Kabelbindern an einen Baum gefesselt. Rund 20 Personen schauen zu. Das geben jene Beamten an, die wegen des Irakers ihren dritten Einsatz zu dem Supermarkt fuhren.
Der letzte Notruf war um 19.52 Uhr eingegangen, acht Minuten vor Ladenschluss des Netto-Marktes. Es sei ein Ladendiebstahl begangen worden, hieß es. Den Anruf machte laut Polizei ein 49-jähriger Mann. Detlef Oelsner ist am vergangenen Montag 49 Jahre alt geworden. Einen Ladendiebstahl – das steht fest – gab es nicht.
Oelsner, dessen Tischlerei und Wohnhaus gleich neben dem Supermarkt liegen, leugnet nicht, dabei gewesen zu sein. Der Sächsischen Zeitung sagt er lediglich: „Wir haben Zivilcourage gezeigt.“ Ausführlich hingegen schildert er der rechtskonservativen Zeitung Junge Freiheit seine Sicht. Demnach habe er am Gartenzaun gestanden, als eine Kundin aus dem Supermarkt kommend gerufen habe, ein Asylbewerber wolle gerade zwei Flaschen Wein klauen. „Da sind wir in den Laden. Wir haben gesehen, dass der aggressiv mit den Flaschen rumfuchtelte und die Kassiererin bedrohte. Also sind wir dazwischen. Wir haben dem die Flaschen abgenommen, einfach, damit nichts passiert.“ Merkwürdig ist: Das Video zeigt, dass Oelsner bereits in dem Supermarkt ist, als es zu dem Zwischenfall kommt – und nicht etwa am Gartenzaun.
Oelsner schildert zudem, der Asylbewerber sei plötzlich aggressiv geworden und habe auf sie eingetreten und -geschlagen. „Da haben wir ihn gepackt, es gab eine Rangelei und dann hatten wir ihn draußen.“ Dem Video nach zu urteilen, war es eher anders herum. Draußen hätten sie den Flüchtling dann an einen Baum gebunden, da die Polizei länger gebraucht habe. Einer der dann eintreffenden Beamten habe „sich noch bedankt und gemeint, wir hätten gute Vorarbeit geleistet.“
Nach SZ-Recherchen treffen sich die im Video zu sehenden Männer regelmäßig am Imbiss „Holzwurmgrill“. Der steht ebenfalls auf Oelsners Grundstück und wird von dessen Frau betrieben. Ist sie die Filmemacherin? An besagtem Sonnabendabend soll es dort jedenfalls eine Party gegeben haben. Zumindest gegen die Männer vom Holzwurmgrill wird ermittelt: wegen Freiheitsberaubung.
Die Asylablehner von Arnsdorf
Außer Oelsner sind zwei weitere Männer aus Arnsdorf identifiziert. Sie sind 29 und 54 Jahre alt. Offensichtlich haben sie das Festhalte- und Festnahmerecht durch jedermann sehr großzügig interpretiert. Auch der Staatsschutz ermittelt. „Wenn 20 deutsche Staatsbürger einen Flüchtling an einen Baum binden, wollen wir grundsätzlich nicht auf diese Expertise verzichten, sagte ein Sprecher. Der zuständige Polizeipräsident hat eine Ermittlungsgruppe Arnsdorf gegründet. Oelsner dazu: „Wir sind keine Bürgerwehr, sondern ganz normale Bürger, aber wir schauen eben auch nicht zu, wenn so etwas passiert.“
Seit im Spätherbst bekannt wurde, dass in Arnsdorf eine Containerunterkunft für Asylbewerber entstehen soll, ist die Stimmung angespannt. Besonders auf der Facebook-Gruppe „Arnsdorf 01477 Bürgerforum“ wird dagegen gewettert. Dort wird bereits am 21. Mai der erste Vorfall in dem Supermarkt bekannt gemacht: „Um 13.25 Uhr rastete ein Asylbewerber beim Netto aus.“ (...) „Was passiert hier dann bei 150 obdachlosen Asylbewerbern?“ Es folgt ein Appell an die Bürgermeisterin: „Machen Sie das nicht. Sonst gründen wir eine Bürgerwehr und nehmen das Recht in die Hand, uns selber zu verteidigen, so wie es das Gesetz vorsieht!“ Auffälligster Akteur auf der Facebook-Seite ist der Arnsdorfer Immobilienmann Arvid Samtleben. Er war AfD-Kreisvorsitzender in Bautzen, ist großer Pegida-Fan und Burschenschaftler. Er schreibt über den Vorfall: „Ich gratuliere meinen mutigen Nachbarn. (...) Unprofessionell war der Staat in Form der Beamten und die Stationsleitung des Krankenhauses, also der Station B 10.“
Der Verwaltungsdirektor des Krankenhauses, Matthias Grimm, ist empört. „Ich weise diese Vorwürfe strikt zurück.“ Die Patienten des Krankenhauses könnten sich bis auf wenige Ausnahmen frei bewegen. Ob der Iraker tatsächlich auf der Station B 10 betreut wurde, wollte er aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht nicht sagen.
Das Management der Supermarktkette entschuldigte sich. Eine Sprecherin teilte mit, keiner der Mitarbeiter habe den Vorfall veranlasst. Das Vorgehen im Video widerspreche den Vorgaben des Unternehmens. Man distanziere sich aber von dem von diversen Medien gemachten Vorwurf, die Mitarbeiter seien fremdenfeindlich.
Der CDU-Ortsverband Arnsdorf/Fischbach fordert von Oelsner nun „unverzüglich eine Entschuldigung“. Menschen an Bäume zu fesseln, entspreche keinesfalls dem christlichen Selbstbild der CDU. Was in der ganzen Aufregung untergegangen ist: Die geplante Asylunterkunft kommt nicht. Das Landratsamt hat die Pläne gestoppt.
Quelle:
http://www.sz-online.de/sachsen/hilfs-sheriff-an-der-supermarktkasse-3411326.html