Erinnert sehr an den Film „Die Welle“.
Spoiler
«Heil Tano!», tönt es über den Campus. Um die 250 junge Menschen, alle in einer Art Uniform aus weissen Hemden und dunklen Hosen, haben sich in einer geraden Formation aufgestellt. Sie strecken den rechten Arm zum Hitlergruss in die Luft. Zwischen den Institutsgebäuden der Uni türmt sich der Schrei auf, dann das Echo: «Heil Tano!»
Tano nickt zufrieden. Seine junge Gefolgschaft tut, was er sagt. «Seht ihr das Liebespaar da drüben?», fragt er durch ein Megafon. Auf einer Bank in der Nähe legt ein gutaussehender junger Mann seinen Kopf in den Schoss einer hübschen jungen Frau. Ob das nicht unverschämt sei, fragt Tano. In Japan gehörten sich öffentlich ausgetragene Zärtlichkeiten nicht.
Also weist Tano einen Aufmarsch an. «Wir gehen jetzt hinüber und sagen denen, was sich gehört.» Die Uniformierten marschieren los. «Euch geht es wohl zu gut!», rufen sie dem Paar zu. Durch sein Megafon stachelt Tano sie weiter an, bis auch die Schüchternen mitrufen. «Euch geht es wohl zu gut! Verschwindet!» Was das verliebte Paar dann auch bald tut.
Sieg, Tano.
Er vergleicht sich mit Hitler
Zehn Jahre lang ereignete sich diese Szene immer wieder auf dem Campus der Konan-Universität in Kobe. Sie war Teil des Kurses «Shakai ishiki ron», auf Deutsch: Lehre des sozialen Bewusstseins, unterrichtet hat der Soziologieprofessor Daisuke Tanozu, kurz Tano.
Daisuke Tano ist der vielleicht bekannteste Faschismusforscher Japans. Mit Sicherheit ist er der ungewöhnlichste. Seinen Kurs über die Theorie des Faschismus rundete er mit einer Praxisübung ab: mit einem Führerkult, der sich um Tano selbst drehte. Er tadelte die Undisziplinierten, lobte die Mitläufer. Wodurch andere verstanden, was zu tun wäre. Und es funktionierte.
Mittlerweile ist das Fach abgeschafft, doch es gehört heute zu den meistdiskutierten Lernhinhalten Japans. Denn Tano hat über sein Experiment kurz vor der Pandemie das Buch «fashizumu no kyoushitsu» (auf Deutsch: «Das faschistische Klassenzimmer») veröffentlicht. Darin fragt er: «Was geschieht mit Menschen, wenn sie einfach nur klare Anweisungen befolgen?»
Trifft man den Wissenschafter ausserhalb der Uni, wirkt er gar nicht wie ein agitatorischer Anführer. Im Restaurant geht der stämmige Mann im bunten Hemd schnell zum Du über. Gerade im von Formalitäten geprägten japanischen Alltag ist das nicht üblich. «Die autoritäre Person zu spielen, macht überhaupt keinen Spass», sagt er. «Die Abläufe, mit denen man seine Gruppe organisiert, sind streng geplant. Das ist anstrengend.» Sehe man Adolf Hitler auf Mitschnitten seiner Reden, wirke der erregt und bekräftigt durch seine Rolle. «Ich bin nicht so.»
Hat sich da gerade jemand freiwillig mit Hitler verglichen?
Geschichtsvergessene Jugend
Im Zweiten Weltkrieg war Japan Verbündeter von Nazideutschland. Aber über die konkreten Ausprägungen des Nationalsozialismus weiss die Allgemeinheit im Land heute wenig. Für Daisuke Tanos Sozialexperiment waren dies günstige Voraussetzungen.
In der vorletzten Unterrichtseinheit des Kurses von Daisuke Tano wählten die Studierenden zuerst aus wenigen Varianten ein Logo für die Gruppe aus. Dann wurde auf einem Sportplatz das Marschieren eingeübt. «Ich habe ihnen Schritt für Schritt gesagt, was sie zu tun haben», erzählt der Lehrer, vor sich ein Bier auf dem Tisch. «Ich musste mir nicht viel Neues ausdenken und konnte einfach den Hitlergruss und die Heil-Parole wiederverwerten.» Kaum einer der an die 2500 Studierenden, die über die Jahre seine Schule der Theorie des Faschismus durchlaufen haben, wusste direkt nach der Übung, dass er gerade die Nazis nachgeahmt hatte. Tano sagt: «Es war für mich beängstigend, wie schnell ich die Masse im Griff hatte.»
Nao Terasawa stand vor vier Jahren in der Menge, die «Heil Tano!» rief und den Arm zum Hitlergruss streckte. Wenn man sie heute auf den Tag anspricht, als sie in der Menschenmasse ein Liebespaar vertrieb, wirkt sie peinlich berührt. «Ziemlich schnell war man voll drin», so erinnert sich die 23-Jährige. «Wenn alle um dich herum auf jemanden losgehen, dann machst du plötzlich mit und schreist wildfremde Leute an.» Nao Terasawa sagt, indem sie alle Verantwortung an Tano abgegeben habe, habe sie sich frei gefühlt. «In der Stärke der Gruppe ging man quasi unter.»
Das gute Aussehen des verliebten Paars auf der Bank schien zudem eine Art Sozialneid der Gruppe zu wecken. Daiichi Yamamoto nahm ein Jahr nach Nao Terasawa am Kurs teil. Er sagt: «Ich hatte zuerst Skrupel, das Liebespaar anzuschreien. Aber die beiden gingen mit ihrem Flirt in der Öffentlichkeit zu weit – als wollten sie etwas zur Schau stellen.» In der Gruppe schwand sein Gefühl der Schuld, stattdessen wuchs jenes der Verantwortung. «Wir hatten den Auftrag, sie zurechtzuweisen.»
Acht Jahre lang lief dieser Lehrgang, den Tano jedes Jahr von der Universitätsleitung genehmigen liess, ohne dass die Öffentlichkeit etwas davon mitbekam. Studierende empfahlen den Kurs von Jahrgang zu Jahrgang weiter. «Ich habe nirgends so viel gelernt wie in dem Kurs», sagt Nao Terasawa. Die Feedback-Bögen zeugten insgesamt von grosser Zufriedenheit. Dann wurden Politiker der nationalistischen Partei Nippon Ishin no Kai (auf Deutsch: Vereinigung für die Restaurierung Japans) darauf aufmerksam und beschwerten sich bei der Universität.
«Studierende erleben den Horror des Faschismus», titelte damals «Asahi Shimbun», die zweitgrösste Zeitung Japans. Hier werde faschistoides Verhalten gelehrt, kritisierte ein Parlamentsabgeordneter aus dem Südwesten des Landes.
Zunächst sollte Tano auf dem Campus ein Schild aufstellen, um zu zeigen, dass es sich bei der synchron schreienden und marschierenden Masse um eine Übung handelte. Im Jahr 2019, als die Universität offenbar Angst vor negativer Presse bekam, musste der Praxisteil dann ganz begraben werden. Daisuke Tano widerspricht dem Vorwurf, sein Experiment sei unethisch gewesen. «Die Teilnahme war weder verpflichtend, noch handelte es sich um echtes Mobbing. Die zwei Verliebten waren Schauspieler. Danach haben wir alles kritisch diskutiert.»
Vorgänger: das Milgram-Experiment
Die Frage, wozu Menschen fähig sind, wenn man ihnen klare Anweisungen gibt, beschäftigt die Sozialforschung seit langem. Tano hat quasi zwei der berühmtesten Experimente der Soziologie repliziert und bestätigt.
1961 testete der amerikanische Psychologe Stanley Milgram den menschlichen Gehorsam mit dieser Versuchsanordnung: Ein Versuchsteilnehmer soll als Lehrer die Lernfortschritte von Schülern überprüfen. Die Schüler halten sich in einem anderen Raum auf. Beantworten sie eine Aufgabe falsch, soll der Lehrer ihnen einen Stromschlag verpassen. Mit jeder falschen Antwort wird der Stromschlag stärker. Milgram wollte wissen: Würden die Versuchsteilnehmer die Schüler quälen, einfach weil ihnen das jemand befohlen hatte? Das berühmt gewordene Milgram-Experiment zeigte: Unter den richtigen Umständen sind wir schnell zu Greueltaten bereit.
Eine ähnliche Geschichte erzählt das Experiment «The Third Wave», das später als Film und Buch Bekanntheit erlangte. Ein Geschichtslehrer in Kalifornien entschied sich 1967 zu einer ungewöhnlichen Lektion. Die Schüler hatten ihn gefragt, wieso sich die Deutschen einfach ins Nazi-Regime eingefügt hätten. In der nächsten Unterrichtsstunde gründete der Lehrer einen Kult mit strengen Regeln und dem Fokus auf die Gruppe. Einige Schüler ernannte er zu Aufpassern, die die Ordnung wahren sollten. Das Experiment dauerte mehrere Tage, aus einer kameradschaftlichen Schulklasse wurde eine unkritische Gemeinschaft, deren Mitglieder sich um der Regeln willen gegenseitig anschwärzten.
Auch weil Kritiker im heutigen Japan ähnliche Tendenzen beobachten, wird Daisuke Tanos Campus-Experiment dieser Tage immer wieder diskutiert. Denn die Grenzen zwischen Zivilcourage und Hetzjagd verschwimmen im Pandemiealltag. «Zurzeit bilden sich manchmal wütende Menschengruppen vor Spielhallen», berichtet der ehemalige Student Daiichi Yamaguchi. «Seit man geschlossene Räume mit vielen Personen meiden soll, beschimpfen einige Menschen diejenigen, die trotzdem noch spielen.»
Wie es auf dem Campus der Konan-Universität nicht verboten ist, auf einer Parkbank zu kuscheln, so ist es auch im Japan der Pandemie nicht gesetzlich untersagt, eine Spielhalle zu besuchen. Die Regierung bittet die Menschen bloss, sich zusammenzureissen. «Diejenigen, die sich seitdem zu Aufpassern berufen fühlen und Spielsüchtige bedrohen, werden jetzt Sittenpolizei genannt», sagt Daiichi Yamaguchi. Mit betretenem Blick fügt er hinzu: «Ein bisschen wie wir damals an der Uni.»