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Rafael Behr: "Die Polizei ist sehr machtvoll. Wir müssen misstrauisch sein."
Rafael Behr war lange Polizist, seither forscht er zur Polizei. Er bestreitet, dass Polizeigewalt zunimmt und beklagt dennoch eine Kultur des Schweigens und Wegschauens.
Interview: Philipp Daum und Philip Faigle
20. August 2020, 18:08 Uhr
Rafael Behr: Der Polizeiforscher Rafael Behr auf dem Flur der Polizeiakademie Hamburg
Der Polizeiforscher Rafael Behr auf dem Flur der Polizeiakademie Hamburg © Paula Markert für ZEIT ONLINE
Rafael Behr kennt die Polizei seit Jahrzehnten. Zwischen 1975 und 1990 war er Polizeibeamter in Frankfurt. Später studierte er Soziologie und machte sich daran, die Strukturen der Polizei zu erforschen. Seine Untersuchung "Cop Culture" über Polizeikultur in Deutschland, erschienen 1999, liest sich heute noch aktuell. Behr, 62 Jahre alt, lehrt seit 2008 als Professor für Polizeiwissenschaften an der Hochschule der Akademie der Polizei in Hamburg. Dort empfängt er auch an einem heißen Sommertag zum Interview. Das Gespräch findet in einem abgedunkelten Unterrichtsraum statt und dauert mehr als zwei Stunden.
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ZEIT ONLINE: Herr Behr, hat die deutsche Polizei ein Gewaltproblem?
Rafael Behr: Eine große Frage. Ich wäre da mit einer pauschalen Antwort vorsichtig.
ZEIT ONLINE: Im Internet kursieren derzeit mehrere Handyvideos, die Gewaltexzesse der Polizei zu zeigen scheinen. In Düsseldorf kniet ein Beamter auf dem Kopf eines Menschen, der mit dem Gesicht zum Boden liegt. Die Bilder sehen dem Mord an George Floyd in den USA erschreckend ähnlich. In Frankfurt tritt ein Beamter bei einer Festnahme einen am Boden liegenden Menschen. In Hamburg ist eine Gruppe von Polizisten damit beschäftigt, einen 15-Jährigen festzunehmen – auch diese Szene endet in Gewalt. In allen drei Fällen sieht es aus, als überschritten die Polizisten die Grenzen des Erlaubten.
Behr: Ja, aber wir müssen auch die Unterschiede sehen. Im Frankfurter Video sieht man ein Gerangel, ein Mensch geht zu Boden. Ein Polizist kommt von außen und tritt nach. Der Beamte wird daraufhin von seinen Kollegen zurückgepfiffen. Das ist meistens ein klares Signal, das eine Grenze überschritten wurde. Dafür spricht auch, dass die Frankfurter Polizei schnell reagiert und drei der am Einsatz beteiligten Beamten suspendiert hat.
ZEIT ONLINE: In Düsseldorf kniete ein Polizist bei der Festnahme auf dem Kopf eines Menschen.
Behr: Das ist meines Wissens eine Technik, die so ähnlich bis heute an deutschen Polizeischulen gelehrt wird. Das ist trainiertes Verhalten. Meine Studenten berichten, dass Ausbilder diese Technik als Ultima Ratio vermitteln, als allerletztes Mittel. Von den Polizisten höre ich, dass es Menschen gibt, die sich bei Festnahmen widersetzen oder selbst am Kopf verletzen wollen, etwa um später behaupten zu können, die Polizei habe sie verletzt. Durch das Knien wird der Kopf fixiert, um das zu verhindern. Die Frage, die jetzt im Raum steht, lautet: Hat der Polizist sein Knie nur auf den Kopf oder auch in den Hals gedrückt, was wegen der Verletzungsgefahr nicht mehr ausbildungskonform wäre. Allerdings zeigt das Video auch nur einen Ausschnitt des Geschehens. Wir wissen noch nicht genau, was zuvor geschah.
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ZEIT ONLINE: Was ist mit der chaotischen Festnahme des 15-Jährigen in Hamburg?
Behr: Das sieht für mich mir eher aus wie der hilflose Versuch einer Festnahme, die in einer Gewaltspirale mündet. Ein Beamter ruft nach Unterstützung, weil er nicht zurechtkommt, dann geraten die Dinge außer Kontrolle. Natürlich wirkt das hilflos, unkoordiniert, irritierend. Und natürlich heißt es später: Der Junge war erst 15. Aber die Beamten sehen erst einmal einen großen, jungen Mann, der nicht einfach dasitzt, sondern sich wehrt. Ich kann da keine übermäßige Polizeibrutalität erkennen.
ZEIT ONLINE: Wie erklären Sie sich dann, dass diese Art der Polizeiarbeit auf so viel Ablehnung stößt? Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul sagte über das Düsseldorfer Video, er sei "erschrocken".
Behr: Das kann der Minister nur sagen, wenn er die hässliche Seite der Polizeiarbeit ausblendet. Und dazu gehört eben auch Gewaltanwendung und Überwältigung. Polizeiarbeit tut weh, muss sie manchmal sogar. Natürlich sieht das niemand gern, natürlich verstört uns das. Aber was legitime Gewalt ist und was nicht, entscheidet sich nicht im Internet. Das entscheidet die Staatsanwaltschaft und später das Gericht.
ZEIT ONLINE: Sie klingen fast so, als nähmen Sie die Kritik am Verhalten der Polizei nicht ernst. Das überrascht, weil Sie üblicherweise Polizeiarbeit kritisch sehen.
Behr: Sie irren, ich nehme das sehr ernst. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Wahrnehmung von Gewalt stark von sozialen Regeln bestimmt ist. In meinen Augen kommen gerade zwei Dinge zusammen: Durch den Mord an George Floyd in den USA gibt es auch in Deutschland eine Tendenz, Polizeigewalt stärker zu problematisieren. Jede öffentliche Festnahme wird heute mit anderen Augen angeschaut. Es kommt öfter vor, dass Menschen Polizeiarbeit filmen und die Aufnahmen im Netz teilen. Das ist dann wie eine selbsterfüllende Prophezeiung: Jedes neue Video dient als Beweis, dass Gewaltexzesse zunehmen. Dabei haben wir in der Forschung wenig oder keine Anhaltspunkte dafür, dass Polizeigewalt zunimmt.
ZEIT ONLINE: Kann es nicht auch sein, dass sich der gesellschaftliche Konsens darüber verschiebt, was legitime Polizeigewalt ist – und was nicht?
Behr: Ich wäre da skeptisch. Natürlich empören sich gerade viele in sozialen Netzwerken über diese Videos. Aber es gibt auch einen anderen Teil der Öffentlichkeit, der dieses Maß an Gewaltausübung gutheißt. Es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens darüber, wie viel Polizeigewalt legitim ist. Die einen wünschen sich ein härteres Eingreifen, die anderen erschrecken, wenn sie solche Bilder sehen. Am Ende entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob ein Einsatz verhältnismäßig war oder nicht.
ZEIT ONLINE: Unser Eindruck ist, dass es in Deutschland kaum eine Institution gibt, die umstrittener ist als die Polizei. Kritiker halten die Polizei für einen Hort des strukturellen Rassismus und der exzessiven Gewaltanwendung. Auf der anderen Seite erklärt Innenminister Horst Seehofer, Deutschland habe "die beste Polizei der Welt". Wie kommt es zu diesen Übertreibungen?
Behr: Für beide Seiten geht es um mehr. Es geht um Ängste, Lebensfragen, Identitäten.
ZEIT ONLINE: Das müssen Sie erklären.
Behr: Es gibt auf der einen Seite viele Menschen, für die Begriffe wie Ordnung, Sicherheit, aber auch die Angst vor "Überfremdung" eine große Bedeutung haben. Das sind oft Menschen, die selbst wenig Macht besitzen, auch ökonomisch gesprochen, und die das starke Gefühl haben, auf den Schutz des Staates angewiesen zu sein. Es handelt sich nicht nur um Wähler von Horst Seehofer, das geht weit in andere Parteien hinein. Viele dieser Menschen fürchten, was Gewerkschaftsfunktionäre wie Rainer Wendt…
ZEIT ONLINE: … der Chef der deutschen Polizeigewerkschaft …
Behr: … offen aussprechen: Dass das Abendland ausverkauft wird und dass alles den Bach runter geht. Da sind Ängste und Lebensfragen am Werk. Und diese Ängste werden dann auf die Polizei projiziert. Die Polizei ist in den Augen dieser Leute eine letzte Schutzmacht, die noch in der Lage ist, eine innere Ordnung und intakte Welt herzustellen, die verloren zu gehen scheint. Wenn die Polizei kritisiert wird, fühlen sich diese Leute fast persönlich angegriffen.
ZEIT ONLINE: Die Kritiker sind oft Menschen, die unter Polizeiarbeit leiden. Die sich über Racial Profiling beklagen und über rassistische Ausfälle von Polizisten. Und die nicht verstehen können, wie man das verteidigen kann.
Behr: So ist es. Und auch für diese Gruppe geht es in der Diskussion um viel.
"Rassistische Gedanken sind in der Polizei weit verbreitet"
ZEIT ONLINE: Gibt es strukturellen Rassismus in der deutschen Polizei?
Behr: Das könnten wir herausfinden, wenn der Bundesinnenminister sich nicht gegen eine entsprechende Studie wehren würde. Aber selbst wenn es die Untersuchung geben würde, müssten wir uns darüber verständigen, was wir mit strukturellem Rassismus meinen: Reicht es, wenn Polizisten rassistisch denken? Oder braucht es eine diskriminierende Handlung? In der Debatte ist mir das oft nicht trennscharf genug.
ZEIT ONLINE: Warum ist die Unterscheidung wichtig?
Behr: Ich erzähle an dieser Stelle gerne eine Geschichte. Michel Friedman, der damalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, wurde seinerzeit von zwei Personenschützern der Frankfurter Polizei bewacht. Irgendwann durchsuchten Ermittler die Spinde dieser beiden Beamten, weil sie annahmen, dass diese Belege falsch abgerechnet hatten. Sie fanden Totenköpfe, lange Mäntel, Nazi-Devotionalien. Die beiden Männer waren Rechte, vielleicht Nazis, und Friedman hat nichts gemerkt. Friedman hat in Interviews später gesagt, die Beamten hätten ihren Job bis zu ihrer Entdeckung wunderbar gemacht, obwohl sie offenkundig Rassisten waren.
ZEIT ONLINE: Finden Sie es nicht problematisch, wenn zwei potenzielle Nazis den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde bewachen sollen?
Behr: Doch, aber mein Punkt ist ein anderer: Es gibt natürlich Alltagsrassismus in der Polizei, genauso wie im Rest der Gesellschaft auch. Das gilt erst recht seit dem Aufkommen der AfD. Es gibt 270.000 Polizisten in Deutschland und natürlich sickert das Programm der Populisten dort ein. Aus unseren Ethik-Seminaren an der Akademie wissen wir, wie weit verbreitet rassistische Gedanken in der Polizei sind. Da sagt der Kollege mit polnischem Hintergrund: Immer wenn ein Kugelschreiber fehlt auf dem Schreibtisch, werde ich dumm angeschaut. Oder der Kollege mit türkischem Hintergrund berichtet von einem Beifahrer, der auf Streife sagt: Komm, wir kontrollieren mal das "Ölauge". Das alles gibt es. Die entscheidende Frage für die Polizeiarbeit lautet: Wie verhindern wir, dass solche Haltungen zu diskriminierenden Handlungen führen?
Rafael Behr als junger Polizist in den Siebzigerjahren © Paula Markert für ZEIT ONLINE
ZEIT ONLINE: Was ist Ihre Antwort?
Behr: Bevor wir über Reformen reden, die das unterbinden könnten, ist mir eines wichtig: Wir müssen wegkommen von der Idee, dass es nur Einzeltäter sind, die das Problem sind. Weg von der Anthropologisierung des Bösen. Das ist die Erzählung von Seehofer und anderen und sie ist falsch.
ZEIT ONLINE: Warum?
Behr: Weil das Gegenteil richtig ist: Die Polizei ist ein hochgradig verregeltes System, es geht immer um Strukturen, niemals um Einzelfälle. Die entscheidende Frage lautet: Haben wir Bedingungen geschaffen, die verhindern, dass die Rassisten, Pädosexuellen und Sadisten, die es zweifelsohne in der Polizei gibt, Schaden anrichten? Die Antwort lautet in meinen Augen klar Nein. Und um das zu ändern, müsste zuallererst eine Debatte stattfinden, die in der Politik niemand will, weil dann ganz viele Themen ans Tageslicht kommen würden. Die Schweigekultur unter Polizisten, der Korpsgeist, all das. Das sind alles Phänomene, die seit Jahrzehnten bekannt sind, aber konsequent geleugnet werden.
ZEIT ONLINE: Wir würden an dieser Stelle gerne über Ihre persönlichen Erfahrungen reden. Sie waren selbst 15 Jahre lang Polizist, von 1975 bis 1990. Anschließend haben Sie rund 30 Jahre lang die Polizei erforscht. Noch heute bilden Sie junge Polizeianwärter aus. Welche Probleme sind Ihnen in dieser Zeit begegnet?
Behr: Das fängt tatsächlich in der Ausbildung an. Dafür muss ich allerdings etwas ausholen.
ZEIT ONLINE: Bitte.
Behr: Ich lese im Moment oft, dass die Polizei besonders gewaltbereite, autoritäre, von Macht besessene Charaktere anziehe. Das erlebe ich anders. Das sind heute eher smarte, gut gebildete Leute, die in meiner Klasse sitzen. Früher hatten Polizisten maximal mittlere Reife. Heute richtet sich die Ausbildung an den Typus des Erwachsenen, einige haben sogar studiert. Wir haben fast genauso viele Frauen wie Männer unter den Bewerbern, die Frauen sind in der Regel in den Theoriefächern etwas besser. Meist sind das wertkonservative Leute, Linke haben wir eher selten. Viele kommen zur Polizei, weil sie mit Menschen arbeiten und Gutes tun wollen. Die wollen ein aufregendes Leben und was erleben, in einem geordneten Rahmen, die ein Beamtenverhältnis mit sich bringt. Ich verstehe das gut. Das alles wollte ich damals auch.
ZEIT ONLINE: Wie erleben Sie diese jungen Menschen?
Behr: Sehr unterschiedlich. Die einen wollen früh zur Kripo, wollen ermitteln, für Gerechtigkeit sorgen. Das sind die Sammler. Und dann gibt es welche, die wollen Einsätze machen, auf Demos, zu Großeinsätzen. Das sind die Jäger. Besonders beliebt ist die sogenannte Beweissicherung- und Festnahmeeinheit (BFE). Da wollen viele hin. Das sind subelitäre Verbände, die besonders gut ausgerüstet sind, Einheiten, die bei Demos oft in der ersten Reihe stehen. Die haben unter vielen Kollegen das höchste Ansehen, bei denen erlebt man am meisten. Brokdorf, Berlin, Hannover, Kalkar: das Tagebuch eines jungen Polizisten. Aber auch von denen, die zum BFE wollen, sagt keiner zu Beginn: Ich will mich gerne prügeln.
ZEIT ONLINE: Und das ändert sich während der Ausbildung?
Behr: Ich bin jedes Mal überrascht, wie schnell unsere Auszubildenden von den "linken Zecken" sprechen. Die müssen oft nur ihre ersten Hospitationstage gehabt haben, über den Hof gelaufen sein oder mit älteren Kollegen gesprochen haben. Danach kommen die mit einem Weltbild zurück, als wären sie um Jahre gealtert. Da sitzt dann so ein Junger und sagt, er sei bei so einer Linken-Demo gewesen und dann seien die Zecken gekommen. Das Feindbild entsteht unglaublich schnell.
ZEIT ONLINE: Wie erklären Sie sich das?
Behr: Viele wollen einfach dazugehören. Es gibt da dieses starke, polarisierende Moment, diesen Korpsgeist, dieses: wir und die anderen. Wir hier drinnen sind die Guten, die für die richtige Sache kämpfen, dort draußen sind die uneinschätzbaren Gegner. Das beginnt sehr früh und ist sehr bestimmend für die Polizeiarbeit. Das betrifft auch andere Gruppen, aber die Linken bieten sich als Gegner besonders an.
ZEIT ONLINE: Warum ausgerechnet die Linken?
Behr: Es gibt eine lange Tradition linker Feindbilder in der Polizei. Das hat sicherlich mit dem RAF-Terrorismus zu tun, der sich ja heute noch in der Organisationsstruktur der Polizei widerspiegelt. Es gibt die Tradition der Erster-Mai-Demos, die langen Auseinandersetzungen mit dem Schwarzen Block. Es hat aber auch damit zu tun, dass die Polizei von Links traditionell die größte Ablehnung erfährt. Die meisten Polizisten denken, sie machen ihre Arbeit gut und dann kommen die Linken und sagen: Was ihr macht, ist Mist. Das löst natürlich Aggressionen aus.
"Die jungen Polizisten besitzen schnell sehr viel Macht"
Seit 30 Jahren forscht Rafael Behr zur deutschen Polizei. Links im Bild: sein Hund Xena. © Paula Markert für ZEIT ONLINE
ZEIT ONLINE: Bekommen Ihre Studierenden die Debatten über Rassismus und Polizeigewalt mit?
Behr: Schon, aber mein Eindruck ist, dass viele dafür kaum ein Gespür haben. Ich merke das, wenn ich Themen anspreche wie Racial Profiling oder Rassismus, da schauen mich viele mit großen Augen an. Es gibt nur wenige, die dafür einen Sensus haben. Und ich verstehe das ein Stück weit auch. Als ich damals zur Polizei kam, waren die Debatten über die Polizei auch weit weg. Mich haben andere Sachen interessiert. Zum Beispiel: Wer hat hier was zu sagen, wer nicht?
ZEIT ONLINE: Wie verändert sich das Bild, wenn die Absolventen, von denen Sie erzählen, in den Polizeidienst eintreten?
Behr: Die sind oft erst mal auf sich allein gestellt. Man muss dazu wissen, dass die Organisationslogik der Polizei in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu einer Arbeitsteilung geführt hat: Die Jungen sind eher draußen, auch bei schwierigen Einsätzen vor Ort. Je älter man hingegen in der Polizei wird, desto eher steigt man in der Hierarchie auf, hat innerorganisatorische Aufgaben und verliert den Kontakt zur Bevölkerung.
ZEIT ONLINE: Die Jungen tragen schnell viel Verantwortung.
Behr: Ja. Und sie besitzen vergleichsweise schnell viel Macht. Zugleich sind sie früh großen Risiken ausgesetzt. Mit Leuten in Berührung kommen, die einem fremd sind, die nicht wollen, wie man will – das obliegt oft denen, die noch am wenigsten Zeit hatten, sich fortzubilden. Diese Jungen und die statusniedrigen Menschen sind zugleich die gefährdesten Gruppen, wenn es um fehlgeleitetes Verhalten geht.
ZEIT ONLINE: Fachleute sprechen von einem Praxisschock. Plötzlich sind Polizisten nach der Ausbildung einer Wirklichkeit ausgesetzt, die sie überfordert.
Behr: Als Polizist ist man nicht nur früh mit fremd erscheinenden Milieus konfrontiert. Sondern auch mit existenziellen Themen wie Sterben, Tod, Ungerechtigkeit, Krankheit, Hartz IV. Ein Polizist begegnet ja nicht einer Gesamtgesellschaft, sondern immer nur einem bestimmten Ausschnitt. Hinzu kommt oft fehlende Anerkennung. Wenn sie am Samstagabend im Kiez unterwegs sind, ist oft viel Alkohol im Spiel, viel Testosteron. Selten sagt da jemand mal Danke. Und eher selten sagt da jemand: Guten Tag, Herr Wachtmeister, schön, dass Sie da sind.
ZEIT ONLINE: Welche Folgen hat das?
Behr: In der Polizei gibt es Probleme, die größer sind, als die aktuelle Rassismusdebatte nahelegt. Mir ist das leider erst in den letzten Jahren klar geworden. Die Psychologin Birgit Rommelspacher hat schon vor 15 Jahren einen Begriff geprägt: "Dominanzkultur". Das beschreibt es ganz gut. Bei vielen Polizistinnen und Polizisten gibt es die klare Vorstellung: Wir sind die Guten, die für das Richtige kämpfen, dort draußen sind die Feinde. Es gibt auch die Denke: Wir vertreten die Herrschaft, ihr seid die Herrschaftsunterworfenen. Hinzu kommt ein starker Normalismus, der auch gesellschaftlich nachgefragt wird. In der Polizeiarbeit drückt sich eben auch aus, was eine Gesellschaft für normal hält und was nicht. Wer gehört dazu? Wer nicht? Und all jene, die diesem Ordnungsbild nicht entsprechen, haben es gegenüber der Polizei oft schwer: Schwarze, Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch Linke oder schlicht Freiheitsliebende. Es gibt da eine tiefsitzende Kultur der Ungleichbehandlung.
ZEIT ONLINE: Wenn man Ihrer Analyse Glauben schenkt, gebe es genügend Gründe für eine grundsätzliche Debatte über die Polizei. Warum findet sie nicht statt?
Behr: Das stört mich gerade am meisten: dass jede Kritik abgeblockt wird. Dass man nicht nüchtern über Probleme reden kann. Sie können heute nicht mehr sagen, dass der Schutzmann B. oder die Polizeiwache ein Rassismusproblem hat. Dann heißt es gleich, man äußere einen Generalverdacht gegen die Polizei. Lasst uns in Ruhe, wir sind Ordnung. Du hast keine Ahnung. Da gibt es einen neuen, gefährlichen Rigorismus in der Polizei.
ZEIT ONLINE: Als die SPD-Vorsitzende Saskia Esken vor Wochen sagte, es gebe "latenten Rassismus" in der Polizei, der zu untersuchen sei, erntete sie harsche Kritik. Der Vorwurf lautete, sie stelle alle Polizisten unter Generalverdacht.
Behr: Ja, aber das Gegenteil von Generalverdacht ist Generalvertrauen. Und das finde ich demokratietheoretisch das Schlimmste, was man machen kann. Die Polizei ist sehr machtvoll. Wir müssen sie kontrollieren und misstrauisch sein. Alles andere ist verheerend.
ZEIT ONLINE: Die Polizeigewerkschaften halten an dieser Stelle immer dagegen, dass das wahre Problem nicht die Gewalt durch Polizisten sei – sondern die gegen Polizisten. Ist da was dran?
Behr: Wir finden dazu in unserer Forschung keinen Beleg. Um es deutlicher zu sagen: Ich halte das Gerede von der steigenden Gewalt gegen Polizisten schlicht für Fake News. Das ist ein Konstrukt, das die Polizeigewerkschaften aufbauen, um politischen Einfluss und Mitglieder zu gewinnen. Da werden Polizisten zu Unrecht zu Opfern stilisiert, die sie nicht sind.
ZEIT ONLINE: Warum findet die Klage dann auch bei Polizisten Zustimmung?
Behr: Das hat auch damit zu tun, dass Polizisten heute meist aus den mittleren Sozialschichten kommen. Die haben alle Impfungen, die passen auf ihre Gesundheit auf. Und sie sind – wie der Rest der Gesellschaft auch – sensibler gegenüber Gewalt. Meine Studierenden, deren Eltern bei der Polizei waren, erzählen, dass ihr Vater früher schon mal mit einem blauen Auge vom Einsatz heimgekommen ist. Das würde sich heute kein Polizist mehr gefallen lassen, da wird eine Anzeige geschrieben. Mit anderen Worten: Nicht die Gewalt ist gestiegen, sondern die Sensibilität gegenüber der Gewalt.
ZEIT ONLINE: Sie haben vorhin von Polizeireformen gesprochen. Welche sind besonders wichtig?
Behr: Ich glaube nicht an die großen Forderungen: an Defund the Police, also die Abschaffung von Polizei. Wir werden weiterhin Polizei brauchen, auch die Bundespolizei. Ich glaube aber an kleine Schritte. Dazu würde definitiv ein anonymes Whistleblower-System gehören, das es Polizistinnen und Polizisten einfacher macht, Verstöße und problematisches Verhalten zu melden. Hilfreich wäre auch eine Supervision für die Beamten in den ersten Dienstjahren, wenn sie es am schwersten haben. Jeder Bürger sollte außerdem die Möglichkeit bekommen, Missbrauch durch die Polizei bei einer Beschwerdestelle anzuzeigen. Und ich würde die Ausbildung von Polizisten reformieren. Ich würde früher und strenger selektieren, noch besser ausbilden, auch in politische Bildung investieren und später verbeamten. Es wäre viel zu tun, aber diese Punkte wären schon einmal ein Anfang.
ZEIT ONLINE: Sie selbst sind vor mehr als 35 Jahren in den Polizeidienst eingetreten. Würden Sie heute einem jungen Menschen raten, zur Polizei zu gehen?
Behr: Nicht jedem. Es kommt sehr auf den Charakter und die Einstellung an. Wenn jemand sehr sensibel und ich-zentriert ist, würde ich eher abraten.
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