Mittwoch, 23.09.2015
Die neue alte rechte Gefahr
Im Mai 1989 verprügelten Dresdner Skinheads Besucher eines Konzerts in der Lutherkirche: Schon die DDR hatte ein Problem mit dem Rechtsextremismus.
Von Oliver Reinhard
Es ist eine gewaltige Menge, fast zu gewaltig für die Lutherkirche in Dresden. Über 700 Fans strömen am 6. Mai 1989 aus der ganzen DDR zum Konzert von Punkbands wie Atonal, Brechreiz und Der fröhliche Grießbrei ins Gotteshaus. Eine gute Gelegenheit für die Skinheads der Kameradschaft Johannstadt, ihre subkulturellen Erzfeinde mal tüchtig aufzumischen. Mehrere Dutzend von ihnen ziehen in voller Montur in die Neustadt. Es kommt zur Schlägerei vor der Kirche, die Polizei wird gerufen, erscheint auch sehr bald mit drei LKW und fährt dazwischen. 20 bis 30 Skins sowie einige Punks werden von den Vopos „zugeführt“.
Noch zwei Jahre zuvor wäre es kaum zu einem so schnellen und rigiden Eingreifen gekommen. Doch seit dem Skin-Überfall auf ein Konzert in der Berliner Zionskirche am 17. Oktober 1987 haben Volkspolizei und Staatssicherheit ihre Strategie geändert. Rechtsextremistische Vorfälle werden nicht mehr wie zuvor als „Rowdytum“ verharmlost und verschleiert. Die Behörden hatten einsehen müssen, dass Neonazis in der DDR eine feste Größe darstellten.
Damit waren sie schon damals schlauer als mancher heute, der immer noch behauptet, „so etwas“ habe es „bei uns“ nicht gegeben, vielmehr seien Rechtsextremismus und Rassismus reine Importware aus dem Westen. In den letzten Wochen wurde diese Behauptung wieder neu genährt. Man hörte sogar, dass auch die fremdenfeindlichen Ausschreitungen vor der Heidenauer Flüchtlingsunterkunft am 21. August von Westdeutschen initiiert worden seien. Was jeder Augenzeuge des Vorfalls mit Fug und Recht bestreiten kann. Doch alte Fehlurteile haben mitunter erstaunliche Langzeitwirkungen.
Schon 1950 hatte die SED dekretiert, in der DDR seien „die Wurzeln des Faschismus ausgerottet“. Tatsächlich blieb völkisch-nationales Gedankengut nach 1945 auch östlich der Elbe lebendig und sichtbar: in Hakenkreuzschmierereien, Friedhofsschändungen, in der Gewalt gegen Juden, „Homos“ und kommunistische Funktionäre. Besonders handgreiflich wurden die Ostnazis bei Fußballspielen. Die Staatsmacht war umfänglich informiert. Zwischen 1965 und 1980 zählte sie Hunderte Vorfälle. Die Täter waren mitnichten allesamt „asoziale Außenseiter“: Die Stasi erfasste in der NVA und den eigenen Reihen 700 „neofaschistische“ Vergehen. Sogar in der MfS-Elitetruppe, dem Wachregiment Feliks Dzierzynski. Das nahm sie durchaus ernst und sammelte, was sich sammeln ließ. 1986 galt bereits jede vierte MfS-Ermittlung wegen „staatsfeindlicher Hetze“ Neonazis. Trotzdem tat Stasi-Chef Mielke alle Nachrichten über die bedrohliche Zunahme des Neofaschismus in der DDR als „Wichtigtuerei“ ab. Solange es ging, kehrte man das Problem unter den Teppich.
Doch die sich kontinuierlich vertiefende wirtschaftliche, soziale und damit auch politische Legitimationskrise der DDR trieb immer mehr Untertanen in die Opposition, die mitnichten nur kirchlich respektive reformsozialistisch-demokratisch war. Da gab es auch jene, die in stiller Nische vom deutschen Kaiserreich träumten, und jene, die heimliche Nazis waren. Ihr Bindeglied war der Hass auf das „Schweinesystem“ DDR. Der entlud sich zunehmend auch in Attacken auf Vertragsarbeiter aus Asien und Afrika. Zudem rückte man nun enger zusammen und organisierte sich.
In Berlin gründeten sich Organisationen wie die „Lichtenberger Front“ und die „NS-Kradstaffel Friedrichshain“, in Guben die „Heimatfront“, in Halberstadt die „Wotansbrüder“, an der Ilmenau die „Weimarer Front“ und in Wolgast die „SS-Division Walter Krüger“. Vielerorts marschierten in deren Reihen neben Jugendlichen auch Lehrer und städtische Beamte mit. Seit 1983 verfünffachte sich die Zahl rechtsextremer Gewalttaten. Als Stasi und Innenministerium dies 1988 bilanzierten, hatte sich jedoch endlich etwas verändert, ausgelöst durch den Überfall auf die Zionskirche.
Zwischen Oktober 1987 und Januar 1988 leiteten die Behörden in einer Aktionismuswelle 40 Ermittlungsverfahren gegen 108 Skins ein. Etliche wurden verurteilt, auch die Zionskirchen-Täter. Nun debattierte man intern auf höchster Ebene: Am 2. Februar 1988 beschloss das Politbüro, alle „Erscheinungen von Neofaschismus“ zu unterbinden. Eine stille Sensation, denn damit gab das Gremium erstmals zu, dass der Faschismus auch im antifaschistischen Staat real existierte. Allerdings – natürlich – als Westimportware. Die wenigen ausführlichen Artikel über Nazis im eigenen Land, die nun in einzelnen Magazinen erscheinen durften, folgten der Linie des Politbüros.
Immerhin gründete das Innenministerium eine „Arbeitsgruppe Skinhead“ und siedelte sie bei der Kriminalpolizei Sie sollte eine „Einstiegsanalyse“ verfassen und Repressionsstrategien empfehlen. Doch die Kriminologen wussten, dass sie es längst nicht mehr mit einem flüchtigen Jugendphänomen zu tun hatten. Was da unter ihren Augen ablief, war ein Prozess, der die gesamte Gesellschaft bedrohte. Sie entwarfen ein Forschungskonzept, das die Mitarbeit von Soziologen vorsah. Und die Zeit drängte: Auf Magdeburger Betriebe wurden Sprengstoffanschläge verübt. In Karl-Marx-Stadt überfielen Rechte ein „ausländisch“ wirkendes Mädchen und ritzten ihm einen Davidstern in den Arm. In Dresden schlugen Skinheads einen Mosambikaner zusammen. In Halle verprügelten fünf junge Männer einen weiteren Afrikaner. Einen dritten warfen Rechte nahe Riesa aus dem fahrenden Zug. Der Hass kam mitten „aus der jungen Arbeiterklasse“. Die Täter waren fleißig, diszipliniert, engagiert, hatten beste Sozialprognosen und wachsende Unterstützung in der Bevölkerung. Zu dieser Erkenntnis kam die Soziologengruppe der Berliner Humboldt-Universität, die nun im ministeriellen Auftrag forschte. Obendrein stellte deren Leiterin fest: Zwar gab es Kameradenhilfe aus dem Westen, jedoch „keine überzeugenden Hinweise, daß der Westeinfluß eine Existenzbedingung für Skinheads“ sei. Fazit: Das Problem war hausgemacht.
Die wahren Dimensionen gingen zur selben Zeit aus Studien des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung hervor: 2 Prozent der DDR-Jugend bekannten sich zur Skinszene, 4 Prozent sympathisierten, 30 Prozent hießen rechte Aktivitäten gut. Etwa ein Achtel fand, „der Faschismus hatte auch gute Seiten“ und glaubte, „Hitler wollte das Beste für das deutsche Volk.“ Die Berliner AG Skinhead erfasste unterdessen über 1 000 gewalttätige Nazis, zudem 6 000 organisierte. Insgesamt bezifferte sie das Milieu auf mehr als 15 000 Personen.
Die Ergebnisse waren ein Schock. Die Staatsführung reagierte umgehend: Die Studien landeten im Giftschrank, die Berliner Forschungsarbeit wurde beendet, die AG Skinhead aufgelöst. Obwohl die Untauglichkeit allein strafrechtlicher Maßnahmen bewiesen war, griff man weiter ausschließlich darauf zurück. Das wurde immer öfter nötig. Gab es in der DDR 1988 noch 185 rechtsradikale Delikte, schnellte deren Zahl 1989 auf über 300. Die Kriminalisten der AG Skinhead wollten sich jedoch nicht damit abfinden, dass alle Mühen vergebens und all ihre Erkenntnisse verschlossen bleiben sollten, und spielten sie dem regimekritischen Regisseur und Autor Konrad Weiß zu. Der verfasste daraufhin den Essay „Die neue alte Gefahr“. Anfang 1989 trug Weiß daraus auf dem Evangelischen Kirchentag in Berlin vor. Was die Besucher hörten, war ungeheuerlich: Niemals sei in der DDR der Nationalsozialismus selbstkritisch aufgearbeitet worden. „Die Drahtzieher und führenden Köpfe des neuen Faschismus in der DDR sind nicht im Westen zu suchen (...) Sie sind das Produkt unserer Gesellschaft.“ Kurz darauf erschien der Text in der Untergrundzeitschrift Kontext.
Um endlich eine gesellschaftliche Diskussion zu erzwingen, war es indes zu spät. Die öffentlichen Debatten hatten längst ein anderes Ziel. Als 1989 die Mauer fiel, strömten mit allerlei Glücksrittern und Abenteurern auch Aktivisten westdeutscher Rechtsparteien ungehemmt ins Land. Obwohl sie schon vorher Kontakte zu Ost-Glaubensbrüdern gehabt hatten, trauten sie ihren Augen kaum, welch blühende Landschaften sie vorfanden. Im Januar 1990 gründete sich die Nationale Alternative, die erste und letzte rechtsextreme Partei der DDR.
Der Rechtsradikalismus im „Beitrittsgebiet“ blieb den neuen Sicherheitsbehörden nicht verborgen. Doch als der Leiter der AG Skinhead seine Erkenntnisse präsentierte, wurde er sprachlos: Auch sie glaubten ihm nicht. Auch sie wollten das Ausmaß des Rechtsextremismus Ost nicht wahrhaben.
So konnten west- und ostdeutsche Kameraden jahrelang ungestört feste Strukturen aufbauen. Und so wuchs da 1989 zusammen, was bis heute zusammengehört, mehr ist, als nur ein gesellschaftliches Randphänomen und nicht in West und Ost auseinanderdividiert werden kann: Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.
Oliver Reinhard (49) hat Geschichte und Medienwissenschaften studiert. Seit 1998 ist er bei der Sächsischen Zeitung im Ressort Kultur und Gesellschaft als Redakteur für Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Film tätig. Der hier abgedruckte Text ist die erweiterte und aktualisierte Version eines Artikels, den er für die Wochenzeitung Die Zeit verfasst hat.
Quelle:
http://www.sz-online.de/nachrichten/die-neue-alte-rechte-gefahr-3205648.html