Die Revision des Reichsbürgers aus Alt-Rehse war erfolgreich, sein Fall muss noch einmal verhandelt werden, da das Gericht eine mögliche psychische Störung nicht ausreichend gewürdigt hat.
Spoiler
Prozess gegen Axel G.Sarah Heinrich - ein Leben lang Opfer
Sie ist einsam, seit sie denken kann. Sie umgibt sich mit Barbiepuppen, am Ende sind es Hunderte. Eine Kuppelshow im TV macht sie zum Gespött der Leute. Doch Sarah Heinrich sucht weiter nach der Liebe – und findet Axel G. Der bringt sie um und steht nun vor Gericht.
Es ist Dienstag, der 9. August 2016, die Sonne scheint auf Alt Rehse und kündigt einen heißen Tag an. Gegen sechs Uhr morgens werden die Menschen in dem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern vom Klang einer Trompete geweckt. Nachbarn rufen die Polizei. Axel G. steht wie so oft im Garten seines Hauses und spielt Trompete. Er ist nackt.
Als die Polizisten an der ehemaligen Dorfgaststätte ankommen, sind alle Fenster und Türen geöffnet. Es stinkt. Zahllose Insekten krabbeln und fliegen herum. Die Beamten gehen durchs Haus, betreten das Badezimmer. Neben der Wanne steht eine Sackkarre, auf die ein Bündel geschnürt ist.
Die Gerichtsmediziner brauchen später eine Weile, das Bündel auszuwickeln. Unter Decken, Isomatten und Plastikplanen finden sie die stark verweste Leiche einer Frau. Nur mithilfe einer DNA-Analyse lässt sich die Tote identifizieren. Es ist Sarah Heinrich aus Fischbach bei Idar-Oberstein. Sie wurde 32 Jahre alt und war zuletzt die Lebensgefährtin von Axel G. Wann genau sie gestorben ist, können die Gerichtsmediziner nicht mehr feststellen. Klar ist nur: Sie ist seit Wochen tot.
Ein kurzer Prozess, nur zwei Termine
Von diesem Mittwoch an muss sich der Computerfachmann vor dem Landgericht Neuruppin verantworten, angeklagt der Körperverletzung mit Todesfolge. Ein kurzer Prozess, nur zwei Termine sind angesetzt. Es wird um die Schuldfähigkeit von Axel G. gehen, darum, ob er in die Psychiatrie oder ins Gefängnis gehört. Es wird hingegen kaum um die Frage gehen, ob Sarah Heinrichs Tod hätte verhindert werden können. Und auch nicht um ihr trauriges Leben zuvor.
Sarah Heinrich war einsam, seit sie denken konnte. Einsamkeit macht bedürftig, und sie macht empfänglich für Angebote von Menschen, die einem in Wahrheit nichts Gutes wollen. Einsamkeit grenzt aus, sie provoziert die Häme jener, die sich über den Einsamen erheben. Sarah Heinrich war eine Außenseiterin. Eine Frau, die aus ärmlichen Verhältnissen stammte, nicht klug war und nicht schön, die sich nicht wehren konnte, die das perfekte Opfer war, und das nicht erst am Tag ihres Todes. Eine Frau, die ihr Leben lang nach Liebe suchte – und am Ende Axel G. fand.
"Sarah Heinrich. Meine Biografie. Mein Leben."
In einem Bungalow in Idar-Oberstein sitzt Vera Müller an ihrem Esstisch. Müller ist Redakteurin bei der "Rhein-Zeitung" in Koblenz und war eine Zeit lang so etwas wie eine Vertraute von Sarah Heinrich. Sie blättert in einem blauen Schnellhefter. "Das ist Sarahs Tagebuch. Sie wollte, dass ich es habe", so sagt sie es. Auf dem Deckblatt steht in leicht nach links gekippten Buchstaben: "Sarah Heinrich. Im Tal der Edelsteine. Meine Biografie. Mein Leben".
Sarah Heinrich war drei Jahre alt, als sie ihre erste Barbie geschenkt bekam. Die Puppen haben sie zeitlebens begleitet. Am Ende besaß sie mehrere Hundert, Prinzessinnen in glänzenden Satinkleidern, durch-trainierte Kerle mit kantigem Gesicht. Mit den Puppen schuf sie sich ein Leben, das ihr in der echten Welt da draußen nicht gelang.
Immer Probleme, Freunde zu finden
Es begann im Kindergarten. "Schon damals hatte ich Probleme, Freunde zu finden, und spielte meist allein", heißt es in ihrer Lebensgeschichte. Auch in der Grundschule fand sie keinen Anschluss. Sie war eines der Kinder, die immer Einladungen zum Kindergeburtstag verschicken, aber selbst niemals eingeladen werden.
Der Vater war herzkrank und konnte nicht arbeiten. "Stattdessen arbeitet meine Mutter seit Ewigkeiten im SB Markt Globus Idar-Oberstein und versucht, die Familie über Wasser zu halten." Man sah Sarah an, dass die Eltern kein Geld hatten. Auf der Realschule wurde sie gemobbt. Sie wechselte zur Hauptschule. "Dort ging’s noch 'ne Ecke brutaler zu. Ich wurde in der Pause im Klo festgehalten von ca. 25 bis 40 Mädchen … Mir wurde ein Stoffbeutel über den Kopf gestülpt und nach unten zugedrückt, dass ich fast erstickt wäre." Nach der Schule flüchtete sie nach Hause, verfolgt von einer johlenden Menge. "Regelmäßig gab es Verfolgungs-Hetzjagden ... Hinter mir 10 bis 30 Schüler." Sie fühlte sich hilflos und alleingelassen, von den Lehrern und von ihren Eltern.
Allein im Zimmer erfindet sie ein Leben für ihre Barbies
Nach der Hauptschule zog sie in ein christliches Jugendheim und machte eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin. Auch dort wurde sie Opfer. Eine Mitschülerin ohrfeigte sie, wieder und wieder. "50 bis 70 Mal. Ich konnte mich gar nicht zur Wehr setzen." Sarah nahm 20 Kilo zu.
Sie fand keinen Job und zog zurück zu den Eltern. Die hatten inzwischen ein Haus in Fischbach gekauft. Die Mauern dünsteten Feuchtigkeit aus. Die Eltern hatten sich mit dem Kauf übernommen. "2008 war das Jahr, in dem die Eltern die Heizöllieferung nicht mehr bezahlen konnten. Die Winter wurden brutal sibirisch kalt. Winter mochte ich noch nie, aber seitdem graute es mir regelrecht davor." Sarah Heinrich war jetzt Mitte 20, arbeitete im selben Supermarkt wie ihre Mutter, räumte in Teilzeit Regale ein. Ihre Schicht begann morgens gegen vier Uhr, sie verdiente 600 bis 700 Euro netto. Zu wenig für einen Neuanfang. Zu wenig für ein Leben auf eigene Faust.
Oft saß sie allein in ihrem kalten Zimmer. An den Wänden hingen Poster von Johnny Depp und Lady Gaga. Die Barbies saßen im Regal, steckten in Hängetaschen, und Sarah dichtete Geschichten für sie, erfand ihnen ein Leben. Ihre Lieblinge hießen Ludwig und Franz-Josef. Deutschland diskutierte gerade die Homoehe, Sarah ließ Ludwig und Franz-Josef heiraten. So holte sie sich die Welt nach Hause. Eine Welt, die ihr verschlossen blieb. "Seit ich denken kann, will ich hier weg. Weit, weit weg. Bin nur hier, weil ich noch keinen Mann fand, der mich 5 Minuten am Stück ertragen kann/konnte."
TV-Sendung "Schwer verliebt" wird zum Fiasko
Da kommt eine Mail, Anfang 2011. TV-Scouts sind auf Sarahs Profil beim Facebook-Vorläufer "Wer kennt wen" aufmerksam geworden – sie hat ein Foto von sich ins Netz gestellt und geschrieben, dass sie Barbiepuppen sammelt. Ob sie Lust habe, mit Moderatorin Britt Hagedorn in der neuen Sat-1-Fernsehsendung "Schwer verliebt" auf Männersuche zu gehen? Sarah füllt eine Onlinebewerbung aus. "Ich dachte nie im Leben, dass die mich nehmen", sagt sie später. "Auf einmal war ich schon mittendrin." Die Dreharbeiten erlebt sie "wie in Trance".
In der Sendung stellt eine Frauenstimme sie vor mit den Worten: "Sarah ist 27 und lebt in ihrer ganz eigenen Traumwelt. Ihre größte Leidenschaft sind ihre 160 Barbies. Doch die Puppen können einen Mann nicht ersetzen." Sarah kämmt einer blonden Barbie die Haare. "In meinem Leben fehlt mir die Liebe", sagt sie. Im Hintergrund singt Emilia: "I’m a big big girl in a big big world". Die Sendung wird ein Fiasko. Sarah zeigt Dirk, einem arbeitslosen Gärtner, und "Legosammler" Bernd ihre Puppen. "Das sind Ludwig und Franz-Josef, die sind schwul", erzählt sie. Arglos wie ein Kind. "Der Ludwig war vorher mal hetero, der war mit der Jasmin verheiratet. Aber die Jasmin liebte den Aladin. Und da haben sie die Scheidung eingereicht. Seitdem hat der Ludwig die Nase voll von den Frauen."
Von Stefan Raab verhöhnt
Sarah ahnt nicht, dass sie sich in den Augen vieler Zuschauer zum Gespött macht. Dass sie schon wieder zum Opfer wird. Vera Müller hatte die bevorstehende Sendung angekündigt und so Sarah Heinrich kennengelernt. Sie ist entsetzt, als sie die erste Ausstrahlung sieht. Sie schreibt in der "Rhein-Zeitung" einen offenen Brief an Sarah. "Die Fernsehmacher … führen dich vor, stellen dich bloß … Sie spielen mit deiner Einsamkeit, deinen Träumen und Sehnsüchten. Sie verkuppeln dich nicht. Sie veräppeln dich und machen dich lächerlich." Sarah Heinrich antwortet: "Mit allem, was du schreibst, hast du recht. Und ich würde auf keinen Fall wieder bei so was mitmachen … Konnte die Nacht nicht mehr pennen."
Acht Folgen werden ab Sommer 2011 gezeigt. Fast drei Millionen Zu-schauer verfolgen, wie Dirk und Bernd unter sich auslosen, wer bei Sarah im Bett schlafen darf. Ihr Leben wird zum Spießrutenlauf, mehr denn je. Auf der Straße, im Supermarkt, überall wird sie ausgelacht. "Wenn ich bei ihr übernachten müsste, ich würde auf jeden Fall Wert darauf legen, dass das Zimmer von innen abschließbar ist", höhnt Stefan Raab bei "TV Total" . Auf Facebook schreiben ihre ehemaligen Mitschüler: "Die kennen wir, die haben wir schon in der Schule gemobbt."
In einer Fischbacher Kneipe, ganz in der Nähe von Sarahs Elternhaus, baut der Wirt eine Leinwand auf. Johlend verfolgt das Publikum, wie Sarah und Dirk sich angeblich näherkommen. In einer Massagepraxis werden sie mit Schokolade eingeschmiert. "Mal gucken, wie du schmeckst", sagt Sarah, streicht Dirk mit dem Finger über den Arm. "Mmh, delicious." Nach der Sendung ziehen die Leute aus der Kneipe zu ihrem Haus, grölen, klingeln nachts um drei an ihrer Tür.
Zum ersten Mal Aufmerksamkeit und Anerkennung
Vera Müller veröffentlicht den Vertrag zwischen Sarah und Sat 1 und enthüllt so, wie die Kandidaten ausgebeutet werden. 700 Euro zahlte der Sender Heinrich für maximal 15 Drehtage. Dafür durfte sie ihr Äußeres ohne "Zustimmung des Produzenten nicht wesentlich" verändern. Sie verzichtete auf "Rechtsschutz", konnte also nicht gegen die Ausstrahlung der Sendung vorgehen. Auch danach musste sie für weitere Filmaufnahmen zur Verfügung stehen. Sarahs Geschichte sorgt bundesweit für Schlagzeilen. "Schwer geknebelt statt 'Schwer verliebt'", schreibt eine Zeitung.
Sarah wird unvermittelt eine gefragte Interviewpartnerin. "Ich will Sat 1 die Stirn bieten", sagt sie im Fernsehen und erzählt, wie die Szenen für "Schwer verliebt" zustande gekommen seien: "Jeder Satz wurde uns erst vorgesagt, dann mussten wir ihn nachsprechen." Der Sender bestreitet alle Vorwürfe.
Namhafte Juristen halten den Vertrag für "sittenwidrig". Jan Böhmermann wirft Moderatorin Britt Hagedorn vor, "Grenzdebile am Rand zur geistigen Behinderung vorzuführen". Kurt Beck, damals Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, fordert die Landesmedienanstalt auf, die Sendung zu überprüfen: „Die Jagd nach der Zuschauerquote darf nicht dazu führen, dass Laiendarsteller in entwürdigenden Situationen zur Schau gestellt werden." Sarah Heinrich bekommt endlich, wonach sie sich immer gesehnt hat: Aufmerksamkeit und Anerkennung. Auf Facebook hat sie ein paar Tausend Freunde. Sie blüht auf, wirkt selbstbewusst, wenn sie vor der Kamera erzählt.
"Mein Leben ist endkrass brutal mörder shit"
Anfang 2012 fällt die Landesmedienanstalt ihr Urteil: Sie sieht in der Sendung "keinen Verstoß gegen Programmgrundsätze oder Verletzung der Menschenwürde". Um Sarah wird es schlagartig still. "Wann gehen wir denn mal wieder ins Fernsehen?", fragt sie Vera Müller. Doch die Medien interessieren sich nicht mehr für sie. "Die Zeit, in der sie gegen Sat 1 gekämpft hat, war vermutlich die beste ihres Lebens", sagt Müller heute.
Bald sitzt Sarah wieder einsam in ihrem Mädchenzimmer und spielt mit den Barbies. Sie schreibt in ihr Tagebuch: "Meinen unerschütterlichen Glauben an die einzig wahre Liebe, die ein Leben lang hält, wollten sie mir rauben. Doch den Glauben an die Liebe können sie mir nicht nehmen. Niemals. Ohne Liebe geh’ ich tot. Ohne Liebe, kein Leben." Und: "Das Leben an sich ist krass und mein Leben ist endkrass brutal mörder shit. Das war's bis hierher. Fortsetzung folgt." Doch Sarah schreibt kein Tagebuch mehr. Sie schenkt Vera Müller Ende 2012 ihr Tagebuch. "Mach was draus, wenn du willst", sagt sie, so erzählt es Müller. Dann bricht der Kontakt ab.
"Axel ist der Einzige, der es ernst mit mir meint"
Am 4. Januar 2015 stirbt Sarahs Mutter, mit 65, an einer unentdeckten Krankheit. Wenig später lernt Sarah über Facebook Axel G. kennen. Der selbstständige Computerfachmann ist fast 20 Jahre älter als sie und wohnt 800 Kilometer entfernt in einem ehemaligen Dorfgasthof in Alt Rehse bei Neubrandenburg. Axel G. ist gerade von seiner Frau verlassen worden, kommt aus der Psychiatrie. Er hatte Benzin und Wasser in den Keller geleitet und gedroht, das Haus anzuzünden. Das Amtsgericht Neubrandenburg hatte ihn deshalb am 6. Januar 2015 vorläufig in die Psychiatrie einweisen lassen. Gut zwei Wochen später, am 21. Januar, war er wieder entlassen worden, weil nach einem ärztlichen Attest "keine Eigen- oder Fremdgefährdung“ mehr von ihm ausginge. Von alldem ahnt Sarah nichts. Sie glaubt, endlich einen Mann gefunden zu haben, der sie länger als fünf Minuten am Stück erträgt.
Sarah postet auf Facebook ein Foto. Sie hockt neben einem Korb, in dem Rosen und ihre Lieblingsbarbies stecken. "Familienausflug" steht über dem Bild. "Der Axel ist der Einzige, der es wirklich ernst mit mir meint", schreibt sie einer Facebook-Freundin.
Axel G. gibt sich als "Reichsbürger" zu erkennen
Am 23. Dezember 2015 steht Axel G. mit Sarah gegen elf Uhr im Foyer des Amtsgerichts Idar-Oberstein. Nach dem Tod ihrer Mutter hat das Gericht Sarah eine Betreuerin zur Seite gestellt, die ihr bei behördlichen Dingen helfen soll. Axel G. will, dass die Betreuung aufgehoben wird, verlangt die zuständige Richterin zu sprechen. Er will sich künftig um Sarah kümmern. Der Amtsgerichtsdirektor Hans-Walter Rienhardt kommt zufällig vorbei, fragt, ob er helfen könne. Axel G. verlangt, den Dienstausweis des Direktors zu sehen. Rienhardt zeigt ihm den Ausweis. "Der gilt nicht. Deutschland ist eine GmbH", sagt Axel G. und gibt sich als "Reichsbürger" zu erkennen. Dann beginnt er zu singen. Als der Wachtmeister ihn rauswerfen will, schlägt Axel G. nach ihm. Rienhardt alarmiert die Polizei. Axel G. und Sarah laufen hinaus, steigen in einen alten, silbernen Mercedes. Ein Polizist stellt sich dem Wagen in den Weg. Axel G. gibt Gas, nur durch einen Sprung zur Seite kann sich der Beamte retten, sonst hätte Axel G. ihn frontal erwischt. Die Polizisten brechen die Verfolgung ab. Weil sie nicht riskieren wollen, dass Axel G. einen Unfall baut, wie die Pressestelle später erklären wird.
Amtsgerichtsdirektor Rienhardt stellt Strafantrag. Ein paar Tage später erfährt er, dass Axel G. am Abend in Alt Rehse "gestellt" worden sei. Rienhardt meint, dass er die Info von der Polizei bekommen habe, ist aber nicht sicher. Der Jurist geht davon aus, dass Axel G. nun in U-Haft landet. Schließlich hat er beinahe einen Polizisten überfahren. Doch nichts dergleichen geschieht. Die Staatsanwaltschaft in Bad Kreuznach wertet G.s Verhalten nicht als versuchte Tötung, sondern als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte im besonders schweren Fall. Axel G. bleibt auf freiem Fuß. Sarah ist inzwischen zu ihm gezogen. Mit ihren Barbies.
Am 4. Januar, anderthalb Wochen nachdem Axel G. beinahe einen Polizisten überfahren hätte, verbietet das Amtsgericht Idar-Oberstein Axel G. per Beschluss Sarahs Betreuerin zu kontaktieren. Er hatte die Betreuerin mit Anrufen belästigt.
Einen Tag später, am 5. Januar 2016 steht Sarah in Alt Rehse am Dorfteich und ruft um Hilfe. Nachbarn bitten sie ins Haus – wie sie fast auf den Tag genau ein Jahr zuvor die Ehefrau von Axel G. ins Haus gebeten hatten. Damals erzählte diese ihnen weinend, dass ihr Mann sie verprügelt habe und drohe, das Haus anzuzünden.
Sie sitzt neben ihm, bleich, verschüchtert
Seit Axel G., der früher als Techniker für renommierte Firmen arbeitete, keine Aufträge mehr bekommt, dreht er mehr und mehr ab. Er fühlt sich vom Verfassungsschutz verfolgt. Eine Zeit lang spielt er über Lautsprecher einen Brummton ab, der im ganzen Dorf zu hören ist, stundenlang. Auf Facebook schreibt er: "Gehe davon aus, dass die natuerliche, in der Kymatik einen Kubus ergebende Stimmung des sog. Kammertons 'A' (bildet eine Kammer) bei 435 Hz eine reinigende Wirkung hat, wenn sie über das LTE HAARP Feld ausgestrahlt wird. Stelle die 435 also kubischen Skalen der Sonnentoene hier rein."
Und nun sucht schon wieder eine Frau Schutz vor ihm bei Nachbarn. "Sie stammelte mehr, als dass sie redete“, erinnert sich eine Nachbarin. "Der hat mich gekidnappt", habe Sarah geweint. "Wirft sich dauernd Pillen ein. Ich muss auch Pillen schlucken." Vom Haus der Nachbarn aus ruft Sarah die Polizei. Beamte nehmen Axel G. mit. Sarah kommt ins Frauenhaus.
Doch schon kurz darauf sehen die Leute Axel G. wieder in Alt Rehse – Hand in Hand mit Sarah. Ihre Anschuldigungen hat sie schriftlich zurückgenommen. Videos, die Axel G. ins Netz stellt, zeigen die beiden im Auto. "Man hat die Sarah fürchterlich benutzt", sagt er. Sie sitzt neben ihm, bleich, verschüchtert. Auf Facebook postet Axel G. Schriftstücke, die belegen sollen, dass er Sarah als "Reichsbürger" geheiratet habe. In einem Video sagt er atemlos: "Die haben das vierte Reich gegründet, hinter unserem Rücken. Ich weiß Bescheid, deshalb soll ich aus dem Verkehr gezogen werden."
"Pass gut auf dich auf"
Etwa zu dieser Zeit klingelt bei Vera Müller das Telefon. Axel G. ist dran, stellt sich als "Mann von Sarah" vor. Die Polizei verfolge ihn und Sarah. Ob die Journalistin ihnen helfen und darüber berichten könne. "Wir sind ein lokales Medium, da sind Sie bei mir an der falschen Adresse", sagt die Journalistin. "Wo ist denn Sarah?" – "Ich geb sie Ihnen", antwortet Axel G. "Ich bin jetzt halt hier", sagt Sarah nur. Genaueres will sie nicht erzählen. Sie wirkt verängstigt. "Pass gut auf dich auf", sagt Vera Müller noch, bevor Sarah auflegt. Es ist das letzte Mal, dass sie von ihr hört.
Sarah geht kurz darauf wieder ins Frauenhaus – und wieder kehrt sie zu Axel G. zurück. Vielleicht hofft sie immer noch, bei Axel G. ihr Glück zu finden. Vielleicht weiß sie einfach nicht, wohin. Ihr Vater ist dement, lebt inzwischen im Heim. Es gibt keine Zeugnisse aus dieser Zeit, die Auskunft über ihren Seelenzustand geben.
Am 5. Juni schreit Axel G. an einem See herum. Badegäste alarmieren die Polizei. Die Notärztin weist ihn nicht in die Psychiatrie ein, sie glaubt, dass er unter Drogen steht. Gut zwei Wochen später postet G. ein neues Video auf Facebook. Er spielt Gitarre, singt auf einer Wiese vor Rindern. "Das ist Kommunikation, Sarah, merkst du das?", fragt er. "Ja", antwortet sie mit dumpfer Stimme. "Mich wollen sie wegsperren, die blöden Bullen", sagt Axel G. unvermittelt. Dann schreien beide los wie irre.
"Sarah = BND Verfassungsschutz ... angesetzt mich zu zerstoeren"
Nur einen Tag später, es ist der 24. Juni, stellt Axel G. ein weiteres Video online. Eine Barbie mit pinkfarbenem Haar hängt an Fäden vor einem Fenster. Zwischen ihren Beinen klemmt eine Nashornfigur aus Metall. Axel G. weint. "Niemals werde ich sie vergessen", schnieft er. "Niemals." Womöglich hat er Sarah gerade umgebracht. Nachts hört ihn eine Nachbarin schreien: "Jetzt bin ich ganz alleine. Jetzt habe ich niemanden mehr. Holt doch die Polizei." Doch die Nachbarn sind es leid, die Polizei zu holen.
Am 16. Juli postet Axel G. auf Facebook. "Sarah = BND Polizei Verfassungsschutz … von wegen Dumm und behindert … angesetzt um mich zu zerstoeren … ist so." Drei Wochen später, an jenem frühen Morgen des 9. August, sieht Axel G. die Polizisten nicht kommen, weil er hinter seinem Haus steht und Trompete spielt. Mit vier Mann überwältigen sie ihn. Bei der Polizei sagt er später aus, dass Sarah seine Brille versteckt habe. Er habe sie deshalb nackt ans Bett gefesselt und mit einer Peitsche geschlagen, wieder und wieder. Sarah habe das Bewusstsein verloren, sei noch mal zu sich gekommen. Dann habe ihr Herz versagt. Zwei Stunden, sagt Axel G., habe die "Folter" gedauert. Nach dem Fund der Leiche durchsuchen die Ermittler das Haus in Alt Rehse. Die Barbies lassen sie dort. "Ihre Suche nach der Liebe endete im Tod" , schreiben die Zeitungen, nachdem Sarah Heinrich identifiziert worden ist.
Hätte die Tat verhindert werden können?
Hätte Sarahs Tod verhindert werden können? Die Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach verteidigt ihre Entscheidung, Axel G. nur wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in besonders schwerem Fall angeklagt und keine U-Haft beantragt zu haben. Die "rechtlichen Voraussetzungen" für ein versuchtes Tötungsdeliktes "hätten nicht vorgelegen", sagt ein Sprecher. Tatsächlich hat der Bundesgerichtshof in einem ähnlichen Fall ein versuchtes Tötungsdelikt ausdrücklich verneint. Dass Axel G. in Neubrandenburg schon mal in der Psychiatrie gewesen war, weil er gedroht hatte, sein Haus anzuzünden, wusste der Staatsanwalt nicht.
In Neubrandenburg wiederum war nicht bekannt, dass Axel G. in Idar-Oberstein beinahe einen Polizisten überfahren hatte. Vielleicht wäre er dann wieder in die Psychiatrie eingewiesen worden. Ob die Polizei in Mecklenburg-Vorpommern allerdings wirklich über den Vorfall in Idar-Oberstein informiert war, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Es gibt jedenfalls kein Einsatzprotokoll. Womöglich hat die Polizei in Idar-Oberstein den Vorfall auch gar nicht nach Mecklenburg-Vorpommern gemeldet. "Aus unseren Unterlagen ist keine Mitteilung über den Sachverhalt an ein anderes Bundesland ersichtlich", schreibt die Pressestelle. So bleibt mysteriös, woher Amtsgerichtsdirektor Rienhardt die falsche Info bekommen hatte, Axel G. sei gestellt worden. Fest steht nur, dass der Mann, der gedroht hatte, sein Haus anzuzünden und beinahe einen Polizisten überfahren hätte, auf freien Fuß blieb, obwohl er eine Gefahr für sich und andere war. Und dass er dann Sarah tötete.
Die Gesellschaft darf so ein Verbrechen nicht akzeptieren
Sarahs Vater ist Nebenkläger, wird von Rechtsanwalt Damian Hötger aus Idar-Oberstein vertreten. "Mir geht es um Gerechtigkeit für Sarah", sagt der Jurist. "Kein Urteil wird sie wieder lebendig machen. Aber wir brauchen ein Zeichen, dass ein solches Gewaltverbrechen von der Gesellschaft nicht akzeptiert wird." Damian Hötger kritisiert die mangelnde Abstimmung der Ermittlungsbehörden untereinander: "In Idar-Oberstein wurde von diesem Mann ein Polizist fast umgefahren, er verwendete sein Fahrzeug wie eine Waffe. Hier hätte sofort der Führerschein entzogen werden müssen, um eine Fahrt des Mannes quer durch Deutschland zu unterbinden. Ein fatales Bild zeichnete sich ab, aber niemand setzte die einzelnen Puzzleteile zusammen."
Die Urne mit Sarahs Asche ist in-zwischen nach Idar-Oberstein gebracht worden. Plötzlich nahmen viele Menschen Anteil an Sarahs Schicksal und wollen zu ihrem Begräbnis kommen. Doch die Betreuerin bestand darauf, dass Sarah Heinrich in aller Stille in einem Ruheforst beerdigt wurde.