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3. Reichsbürger und Selbstverwalter
Die heterogene Szene der „Reichsbürger und Selbstverwalter“ ist aktiver und in Teilen auch aggressiver
geworden. Seit November 2016 werden „Reichsbürger“ vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV)
als Beobachtungsobjekt eingestuft. Die 16 Landesämter für Verfassungsschutz verfahren ebenso.
„Reichsbürger“ und ihre Aktivitäten können seitdem in ganz Deutschland mit nachrichtendienstlichen
Mitteln beobachtet werden.
Bei „Reichsbürgern und Selbstverwaltern“ handelt es sich um Vereine, personelle Netzwerke und
Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen die
Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen, demokratisch gewählten
Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich als außerhalb der Rechtsordnung stehend
definieren. Bedrohungen von kommunalen Verwaltungsmitarbeitern durch dieses Milieu werden schon
seit einigen Jahren in allen Bundesländern registriert. Auch Richter, Staatsanwälte, Justizmitarbeiter
und die Polizei stehen im Fokus dieser Personen. Das Entsetzen war groß, als im August und Oktober
2016 bei Polizeieinsätzen gegen „Selbstverwalter“ in Reuden (Sachsen-Anhalt) und Georgensgmünd
(Bayern) ein Polizist getötet und mehrere Polizisten zum Teil schwer verletzt wurden. Oberstes Ziel ist
es, den Waffenbesitz in diesem Milieu einzudämmen. Deshalb werden „Reichsbürger und
Selbstverwalter“ mittlerweile bundesweit auf waffenrechtliche Erlaubnisse hin überprüft, um diese
gegebenenfalls zu entziehen und die Waffen sicherzustellen.
Verfassungsschutz und Polizei betrachten das Milieu als eigenständiges Extremismusphänomen,
wenngleich ein Teil - die „Reichsbürger“ im engeren Sinne - rechtsextremistisch argumentiert. Diese
Personen behaupten, dass „Deutsche Reich“ existiere fort, Deutschland habe seit Beendigung des
Zweiten Weltkriegs keinen Friedensvertrag geschlossen und existiere daher nicht oder sei immer noch
von den Alliierten besetzt. Das Milieu existiert schon seit über 30 Jahren und definiert sich über selbst
hergestellte Fantasieausweise, mit denen sie sich als Angehörige des „Deutschen Reiches“ ausweisen
wollen. Die führende Organisation in diesem Spektrum ist „Die Exilregierung Deutsches Reich“, die sich
in den letzten Jahren personell verjüngt und neu aufgestellt hat.
„Selbstverwalter“ hingegen behaupten, dass Deutschland im Einigungsprozess untergegangen sei oder
es seit der Abdankung des deutschen Kaisers keine gültige deutsche Verfassung mehr auf deutschem
Boden gegeben habe. Untermauert durch diverse Fantasiepapiere, wie „Bestallungsurkunden“, „Le-
benderklärungen“, „internationale Geburtsurkunden“ oder „Personen- und Identitätsausweise“ erklären
sie sich für „souverän“. Vorbild für diesen Teil der Szene sind die „Souveränen Bürger“ (Sovereign
Citizens) in den USA. Ähnlich wie diese, gründen „Selbstverwalter“ seit einigen Jahren „Samt“- oder
„Landgemeinden“ sowie andere Fantasiegebilde. Die eigens dafür geschriebenen „Verfassungen“
dokumentieren in der Regel deutlich, wie fundamental dieses Milieu die freiheitliche demokratische
Grundordnung ablehnt. Der demokratische Rechtsstaat in Form einer unabhängigen Justiz hat in den
Vorstellungen dieser Aktivisten, die auf Fehlinterpretation natur- und vernunftrechtlicher Überlegungen
fußen, keinen Platz.
Hinzu kommen weitere Einzelpersonen, die als „Milieumanager“ ein wirtschaftliches Interesse an einer
Vergrößerung des Milieus haben. Meistens verbreiten sie esoterisches und
verschwörungstheoretisches Gedankengut über Seminare, Bücher, Zeitschriften und
Internetplattformen sowie über die sozialen Netzwerke. Einige treiben zusätzlich Handel mit eigenen
Pässen, Nummernschildern und anderen Fantasiedokumenten. „Milieumanager“ sind in der Regel
gesinnungsfest. Sie wirken oft über die Grenzen einzelner Bundesländer hinaus.
Mittlerweile sind die Wege, die von einem normalen bürgerlichen Leben zu „Reichsregierungen“,
„Bundesräthen“, „Freistaaten“, „Bundesstaaten“ oder ähnliche Milieus führen können, nachvollziehbarer
geworden. Hervorgerufen werden solche Entwicklungen oft durch grundlegend empfundene
gesellschaftliche Umbrüche, die bisherige Deutungsmuster, Verhaltensweisen und Wertvorstellungen in
Frage stellen, da sie keine Erklärungen mehr für die plötzlichen Veränderungen liefern. Zusätzlich
führen finanzielle und soziale Nöte im Leben dieser Bürger zu Verunsicherungen über den eigenen
gesellschaftlichen Status. Dieser wird als bedroht wahrgenommen. An diese Stelle treten oft
verschwörungsideologische Erklärungen, die sich verfestigen und später kaum noch zu korrigieren sind.
Das „Reichsbürger- und Selbstverwalter“-Milieu bietet in solchen Situationen willkommene
Vernetzungsmöglichkeiten und ermöglicht den Austausch mit Menschen, die ähnliche Ängste und
Auffassungen haben. Erste Fantasiepapiere werden im Internet erworben. Dazu muss man in der Regel
die eigenen, amtlichen Identitätspapiere „einreichen“. Gemeinsame Amtsgänge mit „erfahrenen
Reichsbürgern“ und der Besuch von Stammtischen und Informationsveranstaltungen folgen. Zum
Schluss werden eigene Visitenkarten mit Fantasiefunktionen gedruckt. So werden die
verschwörungsideologischen Vorstellungen der „Reichsbürger und Selbstverwalter“ sozial wirksam,
verändern nachhaltig die politische Wahrnehmung sowie das politische und gesellschaftliche Handeln
der betroffenen Personen.
„Reichsbürger und Selbstverwalter“ in Brandenburg
In Brandenburg sind 440 „Reichsbürger und Selbstverwalter“ bekannt (2016: 300). Davon sind 40
Personen (9 Prozent) behördlich bekannte Rechtsextremisten. Jeder zweite „Reichsbürger“ oder
„Selbstverwalter“ ist über 50 Jahre alt. Die meisten sind männlich (71 Prozent). Rund fünf Prozent des
Milieus verfügen über waffenrechtliche Genehmigungen. Im Vergleich zur brandenburgischen
Gesamtbevölkerung ist dieser Anteil vier Mal höher. Bei Hausdurchsuchungen in diesem Milieu deckt
die Polizei auch immer wieder illegalen Waffenbesitz auf.
„Reichsbürger und Selbstverwalter“ sind überwiegend ein Phänomen des ländlichen Raums. Dort
spielen sich die meisten Vorfälle ab. Besonders der Süden und Osten des Landes sind betroffen. Dabei
dominiert der Landkreis Dahme-Spreewald, gefolgt von Oberspreewald-Lausitz, Elbe-Elster, Oder-
Spree und Märkisch-Oderland.
Unstrukturierte Formen der „Reichsbürger und Selbstverwalter“ in Brandenburg
Die meisten „Reichsbürger und Selbstverwalter“ sind Einzelpersonen oder gehören zu kleineren,
unstrukturierten Milieus, die sich regional- und ortsbezogen in den letzten Jahren durch Nachbarschafts-
und Kennverhältnisse herausgebildet haben. Die Mehrheit dieses unstrukturierten Milieus eint die
Ablehnung des demokratischen Rechtsstaates mitsamt seiner Verwaltung. Sympathien für ein
monarchisches System und kollektivistische Vorstellungen sind daher nicht selten anzutreffen in diesem
Milieu. In allererster Linie fallen „Reichsbürger und Selbstverwalter“ allerdings auf, weil sie sich
hartnäckig Bußgeldern, kommunalen Gebühren, Rundfunkbeiträgen und Steuerzahlungen widersetzen.
Dazu richten sie umfangreiche Schreiben an die Kommunal- oder Steuerverwaltung, für die der Begriff
des „Papierterrorismus“ geprägt wurde. Auch Gerichte und andere Behörden sind davon betroffen. In
diesen Schreiben bemängeln sie oft aus ihrer Sicht fehlende Unterschriften oder fehlende
Rechtsgrundlagen. Zwar sind die Konsequenzen für die hartnäckige Verweigerungshaltung oft hohe
Mahngebühren, Pfändungen, gerichtliche Verfahren oder Erzwingungshaft. Aber bevor es so weit
kommt, müssen die kommunalen Mitarbeiter - im Innen- wie im Außendienst - oft dem hohen Druck des
Milieus standhalten. Im Innendienst werden Kommunalbedienstete oft kurz vor Dienstschluss und des
Öfteren von mehreren Personen dieses Milieus aufgesucht und unter Druck gesetzt. Mitarbeiter sollen
sich ausweisen, belegen, dass sie Beamte sind oder „Gründungsurkunden“ ihrer Behörde vorweisen.
Viele Anliegen, wie die Rückgabe von Personalausweisen, die Ausstellung von
Staatsangehörigkeitsausweisen oder die Siegelung von Grundbuchauszügen entbehren darüber hinaus
nachvollziehbarer rechtlicher Grundlagen. Ihre Abwehr kostet aber viel Zeit.
Versuche von Verwaltungsmitarbeitern, säumige Gebühren und Steuern einzutreiben, werden von
„Reichsbürgern und Selbstverwaltern“ als „Plünderung“ oder „Kriegserklärung“ aufgefasst.
Dementsprechend setzen sie auch hier die Bediensteten unter Druck, indem sie diese beispielsweise
bei ihrem Dienstgeschäft filmen. In vielen Fällen werden solche Videos auf YouTube im Internet
veröffentlicht. Diese Vorgehensweise bezweckt, Verwaltungsmitarbeiter als inkompetentes Personal der
„Bundesrepublik Deutschland Finanzagentur GmbH“ darzustellen und die Legitimität sowie
Berechtigung ihrer Entscheidungen zu untergraben.
Strukturierte Formen der „Reichsbürger und Selbstverwalter“ in Brandenburg
Teile des „Reichsbürger“-Milieus sind den Verfassungsschutzbehörden schon seit 1985 als rechtsex-
tremistische „Kommissarische Reichsregierungen“ (KRR) bekannt.67 Sie waren Teil der
rechtsextremistischen Kampagne zur Wiederherstellung des „Deutschen Reiches“, die bis zur
Wiedervereinigung Deutschlands einen großen Stellenwert in der rechtsextremistischen Bewegung
hatte. Schon damals stellten diese Gruppierungen Fantasiepapiere her und richteten zahlreiche
Schreiben an Verwaltungen.
Die Bedeutung „Kommissarischer Reichsregierungen“ für die Szene
insgesamt ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Im Jahr
2016 war in Brandenburg nur eine Gruppierung aus dem Milieu der
früheren KRR oder „Exilregierungen“ aktiv: Die „Exilregierung
Deutsches Reich“. Sie ist bundesweit tätig und lädt jeden Monat an verschiedenen Orten in
Deutschland zu „Bürgertreffen“ beziehungsweise „Informationsveranstaltungen“ ein, mit denen sie ihre
Anhängerschaft zu vergrößern versucht. Ziel der „Exilregierung“, die sich selbst als „legitime Regierung
der Deutschen“ ansieht, ist die Reorganisation des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1871 als
Kaiserreich. Verfassung und Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland sieht die Gruppierung als
nichtig an. Die Behauptung, die Bundesrepublik Deutschland sei illegal und existiere nicht, wird mit der
Aufforderung verbunden, keine Steuern, Abgaben oder Bußgelder zu bezahlen. Die Exilregierung bietet
vorgefertigte Beschwerde- beziehungsweise Widerspruchsschreiben zum Download aus dem Internet
an. Haupteinnahmequelle ist der Verkauf wertloser „Reichsdokumente“, für die bis zu 100 € Gebühren
verlangt werden. Die Hauptakteure der „Exilregierung“ sind in Brandenburg und Berlin ansässig. In
Berlin befindet sich die Kontaktadresse der Gruppe.
Seit Beginn der Fluchtbewegung aus den Kriegsgebieten Syrien und Irak versucht die „Exilregierung“,
Überfremdungsängste zu stärken und die verschwörungsideologische Vision vom Untergang der
Deutschen zu schüren. Sie kündigt eine bevorstehende Weltherrschaft des „politischen Zionismus“ an.
Nationalstaaten sollen unter Druck gesetzt und zugunsten einer von Juden beherrschten „Neuen
Weltordnung“ ausgelöscht werden. Die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland lehnt die
„Exilregierung“ ab und spricht davon, dass der „Holocaust gegen die deutschen Völker“ inzwischen eine
neue Qualität erreicht habe. Flüchtlinge nennt sie „Invasoren“ und Flüchtlingsunterkünfte
„Invasorenunterkünfte“. Die völkische, antisemitische und rassistische Ideologie der Gruppierung wird
durch solche Auffassungen deutlich.
Neben der „Exilregierung Deutsches Reich“ existieren
in Brandenburg sechs weitere Zusammenschlüsse:
„Freistaat Preußen“, „Provinz Brandenburg“, „Verein
zur Förderung des Rechtssachverstands“ (RSV),
„Freistaat Preußen - Deutsches Reich“,
„Landgemeinde Hosena“ und „Stadtgemeinde Cottbus“
Die Gruppierung „Freistaat Preußen“ wurde 2014 von
einer Kleinstunternehmerin gegründet, deren
unternehmerische Aktivitäten mehrfach in der
Insolvenz endeten. Die Gruppierung war in
Brandenburg gut vernetzt und hat in einigen Regionen des Landes „Reichsbürger“ aus regionalen
Milieus in Cottbus, Potsdam und Brück (PM) für Funktionen gewinnen können. Der „Freistaat Preußen“
hält das Grundgesetz für ein Besatzungskonstrukt und ist in den Vorjahren durch
geschichtsrevisionistische Thesen auf seinen Internetseiten aufgefallen. Nach dem Tod von Lorenz
wurde der Betrieb der Internetseite eingestellt. Die Gruppierung wird aus Cottbus geschäftsführend
verwaltet. Die dort ansässige „Provinz Brandenburg“ organisiert für die rund 50 Mitglieder und
Interessenten aus der Region „Preußenrunden“ und Seminare, bei denen unter anderem die
Geschichtsmythen des Rechtsextremismus und antisemitisch gefärbte Verschwörungsideologien
vermittelt werden. Personell eng verwoben mit der Struktur „Provinz Brandenburg“ ist der „Verein zur
Förderung des Rechtssachverstands“ (RSV) aus Cottbus. Im Jahr 2015 hatte er versucht, mit einer
Liste zur Kommunalwahl anzutreten. In Cottbus zirkulieren immer wieder Flugblätter dieser
Gruppierung, die zehn bis zwölf örtliche Sympathisanten hat. Der RSV pflegt eine eigene Internetseite,
die vor allem das esoterisch verbrämte Gedankengut und die antisemitischen Thesen der schweizer
„Anti-Zensur-Konferenz“ wiedergibt. Deren Organ „Stimme & Gegenstimme“ wird ebenfalls auf der
Internetseite angeboten. Bei der Führungsperson des RSV wurde wegen des Verdachts auf illegalen
Munitionsbesitz eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Dabei wurde die Polizei fündig.
Die Gruppe „Freistaat Preußen - Deutsches Reich“ hat sich 2016 vom „Freistaat Preußen“ abgespalten
und unterhält vom südlichen Brandenburg aus Beziehungen zu Gruppierungen mit ähnlichen Namen im
gesamten Bundesgebiet wie „Bundesstaat Bayern“, „Bundesstaat Sachsen“ oder „Bundesstaat Baden“.
Teilweise verschicken diese Zusammenschlüsse gemeinsame „Anordnungen“ an Verwaltungen in ganz
Deutschland. Derzeit wird gegen einige der Mitglieder dieser „Bundesstaaten“ strafrechtlich ermittelt.
Die „Landgemeinde Hosena“ wurde 2016 von Aktivisten der „Reichsbürger- und Selbstverwalter“-
Szene“ aus Senftenberg (OSL) und Hoyerswerda (Sachsen) gegründet. Hosena ist ein Stadtteil von
Senftenberg und gehörte früher zu Schlesien. Das Ausrufen von „Landgemeinden“, „Samtgemeinden“
oder „reaktivierten Gemeinden“ ist eine neuere Aktionsform des Milieus und wird ebenso in anderen
Bundesländern, wie etwa Sachsen-Anhalt, Bayern oder Nordrhein-Westfalen praktiziert. Seit 2016 ist
die „Stadtgemeinde Cottbus“ aktiv. Solche informellen Zusammenschlüsse des Milieus sind meistens
nicht von langer Dauer. In den Jahren 2012 und 2013 gab es einen ähnlichen Versuch bereits in der
Gemeinde Gosen (LOS), wo für die Dauer von eineinhalb Jahren eine „Samtgemeinde“ gegründet
wurde.