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Musik, ein paar Dreadlocks und viel Aufregung: Die Band Lauwarm hat in der Berner Brasserie Lorraine gespielt – solange sie durfte.
Konzertabbruch wegen Unwohlseins: Das kann vorkommen, denkt man sich, gerade an heissen Tagen wie diesen. Mehr als 30 Grad war es am 18. Juli in Bern. In der Brasserie Lorraine spielte abends die Band Lauwarm, allerdings nur bis zur Pause. Danach traten die fünf Männer nicht wieder auf die Bühne. Nun ist aber keinem von ihnen schlecht geworden, keiner war dehydriert oder sonst wie unpässlich. Vielmehr fühlten sich ein paar Menschen im Publikum «unwohl»: Einige Konzertbesucher fanden es problematisch, dass die Bandmitglieder von Lauwarm, allesamt weiss, Reggae-Musik spielten und zum Teil auch noch Dreadlocks trugen.
Ihr «Unwohlsein» meldeten sie dem Veranstalter, dieser beendete das Konzert und reichte eine schriftliche Entschuldigung nach. Nicht für den Abbruch, sondern dafür, dass er die Gruppe Lauwarm einfach so hat auftreten lassen. Man habe sich im Vorfeld nicht genügend mit dem Thema «kulturelle Aneignung» beschäftigt und hätte das Publikum «besser schützen müssen». Offensichtlich bestehe hier eine «Sensibilisierungslücke» – diese will die Brasserie Lorraine nun schliessen und am 18. August eine Diskussionsveranstaltung durchführen.
Gesprächsbedarf ist ganz sicher da in einer Gesellschaft, in welcher der Vorwurf der «kulturellen Aneignung» zu einem Konzertabbruch führt. Diskussionen rund um dieses Thema kannte man bisher vor allem aus den USA. Seit Jahren wird dort immer wieder darüber gestritten, ob bestimmte kulturelle Ausdrucksformen gewissen Gruppen von Menschen vorbehalten sein sollen.
Das kann Theaterstücke betreffen, die nur von indigenen Kritikern besprochen werden sollen, weil sie von einer indigenen Person geschrieben worden sind, und es kann bis zu Esswaren – etwa: indischen Currys – reichen, die nicht von Leuten aus ehemaligen Kolonialmächten zubereitet werden sollen. Im Hintergrund steht dabei immer der Gedanke, dass es Vertretern einer dominanten Mehrheit nicht zustehe, Dinge für sich in Anspruch zu nehmen, die zur Kultur von (einst) unterdrückten Gruppen gehörten.
Die Herrschaft der Sensibilität
In unseren Breiten war kulturelle Aneignung bisher ein eher karnevaleskes Thema: Ob man dem Nachwuchs an der Fasnacht noch eine Indianerfeder auf den Kopf stecken darf oder damit die amerikanischen Ureinwohner brüskiert, wurde auch in der Schweiz schon diskutiert. Der Vorfall in Bern hebt das Problem nun aber auf eine andere Ebene.
Während klischeehafte Fasnachtskostüme Kinder mit stereotypen Bildern in Kontakt bringen, die man gerne differenzieren möchte, spielt sich die Geschichte des Reggae-Konzerts vor Erwachsenen ab, vor Menschen also, die zumindest schon eine Ahnung davon haben, dass die Dinge auf der Welt komplexer sind als ein Fasnachtskostüm. Wenn man nun aber all die erwachsenen Konzertbesucher wie die Brasserie Lorraine vor allfälligen «schlechten Gefühlen» bewahren will, behandelt man sie exakt wie Kinder.
Die Berner Lappalie bringt damit eine Tendenz zum Ausdruck, die unsere Gegenwart prägt: Die Sensibilität der – erwachsenen – Individuen steht über allem. Um ja keinen Zuhörer, keine Zuhörerin auf irgendeine Weise zu verletzen, wird ein ganzes Konzert abgebrochen.
Unsere Zivilisation hat sich seit Jahrhunderten hin zu mehr Respekt und Rücksichtnahme entwickelt, und daran ist viel Gutes. Wo aber die Sensibilitäten einzelner Individuen uneingeschränkt herrschen, ist keine Gesellschaft mehr möglich. Wer seine Sensibilitäten ausdrückt, sollte daher ein Mindestmass an Resilienz mitbringen. Ein Konzertbesucher könnte zum Beispiel das offene Gespräch mit der Band suchen, anstatt beim Veranstalter für den Abbruch der Veranstaltung zu weibeln und so letztlich sein persönliches Empfinden dem gesamten Publikum aufzuzwingen.
Der Grossteil dieses Publikums hatte offenbar nicht das geringste Problem mit dem Auftritt der weissen Reggae-Sänger und Dreadlock-Träger. In den sozialen Netzwerken hat der Konzertabbruch einen Sturm der Entrüstung verursacht, die Bandmitglieder sind konsterniert. Den Vorwurf der «kulturellen Aneignung» habe er zuvor noch nie gehört, sagte der Bandleader im Interview mit «20 Minuten». Und überhaupt wisse er mit dem Begriff auch gar nichts anzufangen: Ihm gehe es darum, etwas Inspirierendes, Positives aus einer anderen Kultur mitzunehmen und weiterzutragen, und dieser Vorgang sei doch «megaschön».
Fort mit dem Stammbaum
Das ist er tatsächlich, und er beschreibt auch recht genau, wie Kultur funktioniert. Ob es Musik ist, Theater, Technik, Kochkunst oder Literatur: Die Formen der Kultur sind niemals starr und an einen Ort gebunden. Sie bilden sich irgendwo aus und entwickeln sich weiter durch den Kontakt zwischen Menschen, die in ganz unterschiedlichen Weltgegenden leben können. Kulturtransfer gehört zum Menschsein, in allen Kontexten und auf allen Seiten: Die amerikanischen Ureinwohner haben die vielleicht grösste Virtuosität im Umgang mit Pferden entwickelt – nachdem die Spanier das Tier auf den Kontinent gebracht hatten. Die Weissen entdeckten bei ihnen die Schneeschuhe und wandern jetzt auf diesen Geräten durch die Alpen.
Heute scheint vergessenzugehen, dass Kultur ein Prozess ist, der vom Austausch lebt – das ist eine zweite Gegenwartstendenz, die sich in dem Berner Vorfall zeigt. Immer öfter wird Kultur als Essenz präsentiert: als Sache, die zum Wesen einer bestimmten Menschengruppe gehört. Reggae gilt demnach als Musik der Jamaicaner, Dreadlocks als Frisur für Afroamerikaner – als ob in dem Lockengeflecht so etwas wie die kollektive Seele der Schwarzen hausen würde.
Zu Recht empörten sich Antirassisten die längste Zeit über Essenzialisierungen, wie die Weissen sie vorzunehmen pflegten, etwa wenn sie behaupteten, dass Schwarze aufgrund ihrer Hautfarbe nicht in abstrakten Begriffen denken könnten. Wer kulturelle Ausdrucksformen, es seien Musikstile, Frisuren oder Kleidungsstücke, auf exklusive Weise an vermeintlich fixe Identitäten bindet, geht zurück in diese alte Richtung.