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Mehr als eine Randfigur
Als Wachmann habe der Angeklagte von den Türmen aus jeden Winkel des Lagers sehen und mit dem Maschinengewehr erreichen können, so Oberstaatsanwalt Cyrill Klement. Wachmänner hätten die erschießen sollen, die flüchten wollten. In sechs Kompanien habe Josef S. als SS-Mann gedient, zuletzt als Rottenführer. Das war der höchste Mannschaftsdienstgrad, eine Führungsposition mit Verantwortung für vier bis acht andere SS-Männer.
"Sie haben im KZ Karriere gemacht", sagt Klement in Richtung des Angeklagten. Er nannte den 101-Jährigen ein "Rädchen im Vernichtungswerk". Daher die Forderung nach einer Verurteilung zu fünf Jahren Haft. "Das ist unsere Sicht der Dinge, aber ob es zu einer Vollstreckung von fünf Jahren kommt, das steht jetzt nicht zur Debatte", sagte Cyrill Klement dem rbb nach seinem Vortrag. Er wolle dem Urteil nicht vorgreifen.
Strafmildernd wirke für den Angeklagten, dass er sich dem Verfahren trotz Alter und Krankheit gestellt habe, so Klement. Der Hochbetagte ist erst vor einigen Wochen an Bein und Fuß operiert worden und hatte zudem Corona. Zudem gibt es keine Einträge im polizeilichen Führungszeugnis, und die Taten lägen lange zurück. Er sei erst 21 Jahre alt gewesen, als er der SS beitrat, und habe unter dem Einfluss der NS-Ideologie gestanden, so Klement weiter.
Gegen Josef S. allerdings spreche vor allem die unvorstellbare Grausamkeit der Taten und die hohe Zahl der Opfer. Sie wurde, wie der Oberstaatsanwalt betont, nur vorsichtig geschätzt. Es waren vermutlich weit mehr.
Grausamste Mordmethoden
In dem Zeitraum von 1942 bis 1945 legt Klement dem Angeklagten Beihilfe zu exakt 3.522 Morden zur Last. Er listet akribisch auf: 200 sowjetische Kriegsgefangene starben durch einen Genickschuss in einer eigens dazu konstruierten Anlage - die Betroffenen wurden im Glauben gehalten, sie würden nur medizinisch untersucht. Auch 2.352 Kranke wurden dort ermordet. Weitere 566 Häftlinge seien an lebensfeindlichen Bedingungen gestorben - durch Hunger, Auszehrung und Kälte. Schließlich habe Josef S. Beihilfe zur Vergasung von 400 weiteren Opfern geleistet.
Konkrete Taten konnten Josef S. nicht nachgewiesen werden, räumt Klement ein. Das sei aber nach neuer Rechtsprechung des BGH auch nicht nötig. Es reiche die "fördernde Wirkung des allgemeinen Wachdienstes", so der Staatsanwalt. "Die Wachleute leisteten eine Drohkulisse, die jeden Gedanken an Flucht und Widerstand im Keim erstickte", erklärte Klement. "Die Kommandantur wusste um willige Vollstrecker wie Sie, die diese Taten möglich machten."
Auch auf einen Befehlsnotstand könne sich der Angeklagte nicht berufen; Mord sei auch im Dritten Reich strafbar gewesen. Befehle zu Verbrechen hätten nicht befolgt werden müssen, so Klement. Der Angeklagte, so der Staatsanwalt, hätte dem KZ-Dienst entgehen können, wenn er sich freiwillig an die Front gemeldet hätte. Doch das tat er nicht.
Anwalt: DDR-Behörden wussten von SS-Vergangenheit
Ohne sichtbare Regung verfolgte der 101-Jährige das Plädoyer. Anfang Juni soll Verteidiger Stefan Waterkamp plädieren. Er geht ebenfalls davon aus, dass der Angeklagte SS-Wachmann war - auch, wenn der Angeklagte nach wie vor bestreitet, je im KZ gewesen zu sein.
Der Anwalt sagte dem rbb am Rande des Prozesses, drei Jahre Haft seien mindestens zu erwarten. Waterkamp zufolge muss das Gericht aber auch berücksichtigen, dass die Behörden in der DDR seit den 70er Jahren von der SS-Vergangenheit des Brandenburgers wussten, ihn aber nicht anklagten. "Es ist die Frage, warum nicht?" Möglicherweise sei dies eine "rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung".
Verteidigung will bei Haft-Urteil in Revision gehen
Am 23. Mai wird der Prozess mit weiteren Plädoyers fortgesetzt. Dann haben die Anwälte der Opfer und der Hinterbliebenen das Wort. Anfang Juni könnte das Urteil verkündet werden.
Rechtskräftig wird es wohl zunächst nicht, denn der Verteidiger will in Revision gehen, wenn seinem Mandanten eine Haftstrafe droht. Da der Hochbetagte nicht in Untersuchungshaft ist, kann es acht oder neun Monate dauern, bis der Bundesgerichtshof entscheidet, zeigten sich mehrere Anwälte im rbb-Interview überzeugt – wenn der Angeklagte dann noch lebt.
In diesem Fall würde das Urteil erst im kommenden Jahr rechtskräftig werden. Josef S. wäre dann 102 Jahre alt. Ein Gutachter müsste entscheiden, ob er noch haftfähig ist. Anwalt Thomas Walther, der elf der Nebenkläger vertritt, hält das für möglich. "Es gibt Haftkrankenhäuser in jedem Bundesland", sagte er im rbb-Interview. Die Versorgung eines Hochbetagten sei dort gewährleistet.
Sendung: Antenne Brandenburg, 17.05.2022, 14 Uhr