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Das Landgericht Itzehoe verhandelt hier in Schleswig-Holstein seit Oktober den Fall Irmgard F., 96 Jahre alt. Als junge Frau war sie Sekretärin im KZ Stutthof. Zum ersten Mal muss sich eine Zivilistin in Deutschland für Verbrechen im Todeslager der Nazis verantworten, die Staatsanwaltschaft wirft ihr Beihilfe zum Mord in mehr als 11 000 Fällen vor. Es ist ein zäher Prozess, der gleich damit anfing, dass er nicht anfing.
Sie trug keine Uniform und kein Gewehr, sie saß an der Schreibmaschine: eine Bürokratin des Terrors
Zum Prozessbeginn lief die fast hundertjährige Angeklagte dem Gericht davon, bei zwei Terminen zu Jahresbeginn war sie krank. Niemand weiß, wie und wann die Strafsache F. enden wird. Wird es überhaupt ein Urteil geben? Kann der ehemaligen Schreibkraft eines KZ-Kommandanten die Mitschuld am Holocaust nachgewiesen werden?
Irmgard F. sitzt in einem Rollstuhl, wegen Corona zwischen Plexiglasscheiben, als Asia Shindelman auf den Monitoren des Gerichts auftaucht. Die Angeklagte trägt ein beiges Kostüm, eine beige Mütze. Den Gehstock mit Silberknauf hat sie abgestellt, die Maske abgenommen und auch die Sonnenbrille, die sie immer aufsetzt, wenn Kameras in der Nähe sind. Helfer haben ihr einen Ohrstöpsel eingesetzt. "Können Sie so alles hören?", fragt der Vorsitzende Richter Dominik Groß. Sie nickt.
Aber Irmgard F. schweigt. Sie sagt hier kein Wort zu ihrer Vergangenheit. Was man weiß: Sie war 18, später 19 Jahre alt, als sie von 1943 bis 1945 im warmen Büro des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe arbeitete, während draußen im KZ Stutthof Gefangene wie Asia Shindelman litten und Tausende umgebracht wurden. Juristisch war die Angeklagte zur Tatzeit Heranwachsende, deshalb gilt trotz ihres hohen Alters das Jugendstrafrecht.
Wegen der Zuschauer und Reporter tagt die Jugendkammer in einem umgebauten Logistikzentrum im Itzehoer Industriegebiet, nahe der Autobahn: China Logistic Center, erster Stock. Auch Schulklassen sitzen manchmal im Publikum, angewandter Geschichtsunterricht. Grauer Teppichboden, tiefe Resopaldecke, Leuchtstoffröhren und eine Uhr mit Klappziffern, die seit Prozessbeginn immer 13.43 Uhr anzeigt. Als sei die Zeit stehen geblieben.
Asia Shindelman war schon einmal Zeugin in einem NS-Verfahren, 2020 in Hamburg wurde der 92-jährige Bruno D. wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 5000 Fällen zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt. Er hatte für die SS in Stutthof auf einem Wachturm gestanden, der Anklage galt er als "kleines Rädchen in der Tötungsmaschine des Konzentrationslagers". Mehrere SS-Wachleute wurden in den vergangenen Jahren zur Rechenschaft gezogen, gerade steht in Brandenburg ein 101-Jähriger vor Gericht.
Das Gericht tagt in einem umgebauten Logistikzentrum. Grauer Teppichboden, Leuchtstoffröhren und eine Uhr mit Klappziffern, die seit Prozessbeginn immer 13.43 Uhr anzeigt. Als sei die Zeit stehen geblieben. (Foto: Marcus Brandt/dpa)
Aber dieser Prozess ist anders, denn Irmgard F. trug keine Uniform und kein Gewehr. Sie saß an der Schreibmaschine.
Sie schrieb für Menschen, die über den Tod verfügten. Sie scheint ein weiteres kleines Rädchen gewesen zu sein, das diese monströse Tötungsmaschine am Laufen hielt, eine Bürokratin des Terrors. Und, das machte ihren Fall zur bizarren Weltnachricht: Am ersten Prozesstag, das war Ende September 2021, blieb ihr Platz im Gerichtssaal leer. Irmgard F. hatte dem Landgericht in einem handgeschriebenen Brief mitgeteilt, dass sie nicht zu den Verhandlungen kommen werde und sich von ihrem Verteidiger vertreten lasse. Sie wisse nicht, wofür sie sich verantworten solle. Außerdem habe sie gesundheitliche Probleme und wolle sich nicht zum Gespött machen. Sie kam nicht. "Nach Lage der Dinge ist die Angeklagte flüchtig", informierte Richter Dominik Groß das Publikum.
Eine 96-Jährige, die einst beim Massenmord mitgeholfen haben soll und jetzt in einem Taxi aus ihrem Altenheim in Quickborn floh. Vier Stunden später wurde Irmgard F. von Polizisten an der Hamburger Stadtgrenze aufgegriffen. "Die deutsche Polizei nimmt eine 96-jährige Nazi-Verdächtige fest, die dem Gericht zu entkommen versuchte", meldete die New York Times.
Sie habe sich gefreut, dass alle so lange Gesichter gemacht hätten, gab Irmgard F. bei ihrer Verhaftung zu Protokoll. Sie werde mit Dreck beworfen und habe nur noch Feinde, auch im Pflegeheim. Deswegen sei sie gegangen, sie habe bewiesen, dass sie das könne. Von Schuldgefühlen keine Spur. Auch ihr körperlicher Zustand schien nicht so übel zu sein, für einen Fluchtversuch reichte es jedenfalls.
Als die Zeugin redet, wirkt die Angeklagte abwesend und nestelt an ihrem Hörgerät herum
Sie kam in Untersuchungshaft und wurde nach ein paar Tagen mit einem elektronischen Armband entlassen. Seitdem klingt Richter Groß jedes Mal erleichtert, wenn er ihre Anwesenheit feststellt. Die Verhandlungen finden wegen ihres Alters ohnehin nur maximal einmal die Woche statt und dürfen nicht länger als zwei bis drei Stunden dauern. Begleitet wird Frau F. immer von einer Ärztin oder einem Arzt aus dem gerichtsmedizinischen Dienst, ihren beiden Anwälten sowie einem Vertreter der Jugendgerichtshilfe.
Auf den Flachbildschirmen sieht man jetzt Asia Shindelman in den USA, neben ihr steht eine goldgeblümte Tasse, ab und zu huscht ihr Sohn Michael durchs Bild. Sie kam 1928 in der litauischen Stadt Šiauliai zur Welt. "Das Haus war von einem wunderschönen Garten umgeben", sagt sie. "Liebend und fürsorglich" sei ihre Kindheit gewesen. Dann marschierten die Nazis ein. "Und gleich ging das Morden los."
Die Shindelmans wurden ins Ghetto deportiert, dann nach Stutthof. "Schneller, schneller, heraus, verfluchte Judenbande", hätten die SS-Leute in die Viehwaggons geschrien, die Zeugin Shindelman sagt das auf Deutsch. Dann die Selektion, ihre Oma sah sie nie wieder, der Vater kam später nach Dachau und war nach dem Krieg ein ausgezehrter Mann. Die engen Baracken in Stutthof, die nackten Pritschen, das Stehen und Knien beim Appell, die wässrige Suppe. Wer nicht mehr konnte, "dem haben die Deutschen den Rest gegeben". Asia Shindelman spricht konzentriert, vor ihr liegen Blätter mit Notizen. "Die deutschen Aufseher durften mit uns alles tun", sie hätten Gefangene gegen den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun geworfen oder zu den Hunden. "Erschießen durften sie uns auch. Alles war erlaubt. Die Deutschen konnten uns auch totschlagen." Dann ist kurz Stille, nur die Klimaanlage surrt.
Irmgard F. schaut im Gericht selten in Richtung der Flatscreens der Videoübertragung, ab und zu fährt sie sich durchs Gesicht. "Frau F. hat sich das Hörgerät rausgenommen", sagt der Richter, Irmgard F. nestelt am linken Ohr herum, als ob sie das Gerät störe, ein Helfer setzt die Ohrmuschel wieder ein. Die Angeklagte wirkt bei all dem wie abwesend.
"So quälten wir uns den ganzen Tag", sagt Asia Shindelman und erzählt, wie sie nach stundenlangen Fußmärschen Schützengräben ausheben mussten. Es war der kalte Herbst 1944, die Rote Armee näherte sich. Der Richter erlaubt eine kurze Pause, die Angeklagte muss auf die Toilette, die Dixi-Klos sind draußen. Dann wird die Vernehmung von Asia Shindelman bis zum nächsten Termin unterbrochen und Irmgard F. in den Aufzug geschoben.
Der Ort, an dem sich diese beiden Leben vor langer Zeit das erste Mal kreuzten, liegt in Polens Nordosten, nahe der Ostsee. Aus Danzig, dem heutigen Gdańsk, fährt man eine Stunde über flaches Land nach Stutthof, polnisch Sztutowo. Die KZ-Gedenkstätte ist zwischen Strand und Gleisen. Es sind Gleise, die bis nach Auschwitz führten. 65 000 Menschen wurden hier umgebracht. Erschossen, vergast, gehängt, sie starben an Krankheiten, Schlägen, an Gift aus Todesspritzen.
Prozess gegen KZ-Sekretärin: 65 000 Menschen wurden im KZ Stutthof umgebracht: erschossen, vergast, gehängt, sie starben an Krankheiten, Schlägen, an Gift aus Todesspritzen.Detailansicht öffnen
65 000 Menschen wurden im KZ Stutthof umgebracht: erschossen, vergast, gehängt, sie starben an Krankheiten, Schlägen, an Gift aus Todesspritzen. (Foto: mauritius images/Alamy Stock Photos)
Zwei Leben. Die Nebenklägerin Shindelman und die Angeklagte F., die zwei Jahre lang die Stenotypistin des Kommandanten war. Begegnet sind sich die beiden Frauen in Stutthof wahrscheinlich nie.
Irmgard F. hatte ihr Dienstzimmer in der Kommandantur, nördlicher Flügel. Der Backsteinbau hat sich kaum verändert, wenn man von den Hakenkreuzfahnen absieht, die auf alten Fotos zu sehen sind. Davor ist immer noch ein Teich, damals schwammen hier Schwäne herum, es war eine zynische Idylle. Dahinter das hölzerne Tor zum sogenannten Alten Lager, an dessen Ende die frühere Gaskammer liegt und das Krematorium. Daneben das Neue Lager, zwischen Stacheldrahtzäunen, Wachtürmen und Gedenksteinen. Fotos in einem ehemaligen Gewächshaus zeigen ausgemergelte Körper. "Todesursache offene Lungenentzündung", steht auf einem Totenschein.
"Es ist nicht möglich, hier zu sitzen und nichts zu sehen", sagt Marcin Owsiński. Er steht in dem Zimmer, das damals das Schreibzimmer von Irmgard F. war, die damals noch Irmgard D. hieß. Eine Abstellkammer, Bücher stapeln sich auf einem Tisch. Durch die Fenster sieht man rüber ins Lager, dorthin, wo damals Asia Shindelmans versuchte zu überleben.
Durch eine Durchgangstür geht es in das ehemalige Büro von Lagerchef Hoppe. Schuhe quietschen auf hellem Parkett, es riecht nach Bohnerwachs. Marcin Owsiński leitet seit vielen Jahren die wissenschaftliche Abteilung des KZ-Museums. "Ich kenne diese Zimmer gut", sagt er. "Sie sind immer leer. Vielleicht gibt es jetzt ein Gesicht dazu", das Gesicht von Irmgard F.
Die Anklage geht davon aus, dass sie "teilweise bis ins Detail" wusste, was in Stutthof geschah
Irmgard F. kommt aus der Umgebung von Danzig, sie begann nach einer kaufmännischen Lehre als Stenotypistin bei der Dresdner Bank, der Hausbank des NS-Regimes. Am 1. Juni 1943 wechselte sie ins KZ Stutthof und blieb bis zum 1. April 1945, bis zur Evakuierung. Im Stutthofer Archiv mit seinen 200 000 Dokumenten findet sich offenbar nicht viel zu zivilen Angestellten, der Historiker Owsiński und sein Team hätten gern mehr Fotos, Briefe, Erinnerungen. Alles, was das Bild vom Alltag des Grauens vervollständigen könnte. Im Gericht in Itzehoe schilderte der historische Sachverständige Stefan Hördler, dass in der Stutthofer Kommandantur auch gefeiert wurde und gespeist, dass es Schunkellieder gab, Varieté und "weltanschaulichen Unterricht".
Irmgard F. war selbst mehrmals Zeugin. Verhört wurde sie unter anderem vor dem Prozess gegen Kommandant Hoppe, der nach dem Urteil 1957 gerade mal drei Jahre im Gefängnis saß, danach ein unauffälliges Leben führte und 1974 starb. In einer Befragung soll sie gesagt haben, dass auch Befehle für Erschießungen und Deportationen über ihren Schreibtisch gegangen seien. Aber die meisten ihrer alten Aussagen dürfen jetzt nicht vom Gericht verwendet werden. Sie wurde damals offenbar nicht über ihre Rechte belehrt.
In Befragungen vor diesem Prozess behauptete Irmgard F. in ihrem Zimmer im Seniorenheim, das Lager an sich nie betreten und mit den Morden nichts zu tun gehabt zu haben. "Lächerlich" seien die Ermittlungen nach all den Jahren. Fotos oder Dokumente von damals habe sie seit der Flucht aus dem Osten oder dem Umzug ins Altenheim keine mehr. Was ihre Arbeit für den KZ-Kommandanten Hoppe betraf, so könne sie sich "nur an Bestellungen für Gartenbedarf erinnern", so ein ermittelnder Staatsanwalt.
"Ich kenne keine Sekretärin, die keine Ahnung hat, was in der ganzen Korrespondenz steht", sagt Marcin Owsiński, der jetzt in dem Zimmer steht, in dem sie damals gearbeitet hat. Owsiński hat mehr als hundert Überlebende interviewt, die meisten von ihnen sind inzwischen tot. Er hat ein Buch über den ersten Stutthof-Prozess 1946 in Gdańsk geschrieben und stieß dabei auf eine deutsche Wachfrau, die in jenem Prozess nur deshalb nicht zum Tod verurteilt wurde, weil sie sich nach wenigen Wochen im KZ zum Roten Kreuz zurückversetzen ließ. "Es geht hier um ein einfaches Wort" sagt Owsiński. "Nein."
Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Irmgard F., vormals Irmgard D., zur Anstellung im KZ gezwungen wurde. Damals holten die Nazis zwar immer mehr Frauen als Aufseherinnen, Telefonistinnen oder Sekretärinnen in die Lager, weil die Männer im Krieg gebraucht wurden, aber die Zivilistinnen kamen in der Regel freiwillig. Nach dem Krieg heiratete Irmgard F. einen ehemaligen SS-Oberscharführer, den sie im KZ kennengelernt hatte. Sie bekam laut dem Historiker Stefan Hördler in der Nachkriegszeit zu Hause Besuch von den SS-Männern Paul Werner Hoppe und Arno Chemnitz. Auch das wirkt nicht so, als hätte sie Gewissensbisse gehabt. Die Anklage geht davon aus, dass sie "teilweise bis ins Detail" gewusst habe, was in Stutthof geschah. Sie habe "die reibungslose Funktionstüchtigkeit des Lagers gesichert".
Prozess gegen KZ-Sekretärin: Vor dem Prozess behauptete Irmgard F., das Lager an sich nie betreten und mit den Morden nichts zu tun gehabt zu haben. Die Anklage sieht das anders.Detailansicht öffnen
Vor dem Prozess behauptete Irmgard F., das Lager an sich nie betreten und mit den Morden nichts zu tun gehabt zu haben. Die Anklage sieht das anders. (Foto: Getty Images)
Und doch fragen sich manche, wie die einstige KZ-Sekretärin mit 96 vor diesem Jugendgericht landen konnte. Hans-Jürgen Förster sagt: "Rechtlichkeit hat kein Verfallsdatum." Der frühere Bundesanwalt vertritt gemeinsam mit Thomas Walther vier der 31 Nebenkläger und Nebenklägerinnen. Die Rechtsprechung hat sich geändert, inzwischen gilt auch Beihilfe zum Mord bei den NS-Verbrechen als Tatbestand. Ermittler wie Förster und Walther trugen entscheidend dazu bei, dass die Fahndung nach mutmaßlichen Tathelfern wieder aufgenommen wurde und manche von ihnen vor Gericht kamen. Aber Rechtlichkeit hat nur dann kein Verfallsdatum, wenn Mord oder Beihilfe zum Mord bewiesen wird, weil nur Mord nicht verjährt. Die meisten Täter sind ohnehin längst tot.
Auch der Anwalt Förster ist ziemlich entsetzt, dass die Ermittlungen und der Start des Prozesses in der Strafsache Irmgard F. so verzögert wurden. Es hätte viel schneller gehen müssen, ganz zu schweigen von früheren Zeiten, als NS-Mordgesellen bundesweit davonkamen. Doch Hans-Jürgen Förster muss in diesem improvisierten Gerichtssaal daran denken, dass hier nicht nur Versäumnisse der Justiz nachgeholt werden. Sondern dass es hier um den Nachweis konkreter Schuld geht, um die Schuld einer damals jungen Frau an einer Schreibmaschine der KZ-Führung.
Und vor allem geht es um die letzten Überlebenden und um die Angehörigen der Toten. 1977 ermittelte Förster als junger Lübecker Staatsanwalt gegen einen Tatverdächtigen aus einem Außenlager des KZ Auschwitz, er machte Opfer ausfindig, traf sie. Seitdem ist ihm sehr bewusst, wie heilend Erinnerung sein kann - und wie schmerzhaft. Er wurde umarmt, er wurde beschimpft. "Das Urteil ist für die Opfer extrem wichtig", sagt Förster, auch wenn die meisten keine Rache wollten. Sie wollten meist nur gehört werden. Die Schuldfrage sei auch deshalb so bedeutend, weil sich viele Überlebende selbst schuldig fühlten. Weil sie überlebt haben.
"Angenehm ist es nicht, das aufzuwühlen", sagt in Itzehoe am siebten Verhandlungstag der Zeuge Josef Salomonovic aus Wien, 83. "Es ist eine moralische Pflicht." Er kam als Sechsjähriger nach Stutthof, sein Vater wurde dort mit einer Spritze ins Herz getötet. Er bringt ein Foto des Vaters mit ins Gericht, für ihn ist Irmgard F. "indirekt schuldig, auch wenn sie im Büro gesessen hat".
An diesem Dienstag, dem dreizehnten Verhandlungstag, wurde der Zeuge Abraham Koryski aus Haifa zugeschaltet. Er erzählt vom Horror in Stutthof, von Prügeln und dem Geruch verbrannter Menschen. Die Angeklagte interessiere ihn nicht, aber was geschehen sei, dürfe nie vergessen werden, sagt er. In den kommenden Wochen soll auch Chaim Golani aus Israel vernommen werden, Golani war Zwangsarbeiter im Stutthofer Krematorium.
Die Zeugin erzählt vom Todesmarsch, von Leichen und Schnee, der Richter drängelt
Es ist Ende Januar, als Asia Shindelman ihre Aussage fortsetzt, Wochen nach dem ersten Teil. Wieder eine Videoschalte nach Amerika, sie trägt diesmal eine gestreifte Wolljacke und eine Perlenkette. Sie erzählt, wie sie als Zwangsarbeiterin eiternde Geschwüre bekam, wie ihr Hände und Füße erfroren. Im Sommer färbe sich die Haut an Fingern und Zehen seitdem weiß, an den Knien habe sie immer noch Narben. Sie erzählt vom Todesmarsch 1945 nach Deutschland, von Leichen und Schnee, von Hunger und Erschöpfung. Wie sie jeden Morgen den deutschen Soldaten melden mussten, wer gestorben sei. Sie hatte Typhus und hohes Fieber, ihre Mutter konnte nicht mehr aufstehen. Dann kamen die Russen. Dann war der Krieg vorbei.
Als wieder eine Toilettenpause für Irmgard F. ist, sagt Asia Shindelman: "Ich verstehe doch, es ist auch für Sie sehr, sehr anstrengend." Sie ist pensionierte Chemikerin, hat zwei Söhne, vier Enkel und fünf Urenkel. Der Richter Dominik Groß will die Sitzung dann rasch schließen, es sind die Nebenklägeranwälte, die noch mal nachfragen. "Ich muss Ihnen sagen, dass das KZ Stutthof die regelrechte Hölle war", sagt Asia Shindelman, "selbst Tiere wurden dort besser behandelt."
Das Gericht drängt jetzt, aber sie beantwortet noch die Fragen eines Anwalts. Redet über die Schäferhunde in Stutthof: "Stellen Sie sich vor, auf Sie wird ein Hund gehetzt, der reißt Sie in Stücke, und die Hunde fressen von dem Fleisch", sagt Asia Shindelman, ihre Stimme stockt. "Können Sie sich das vorstellen?"
Irmgard F. setzt sich die Brille auf, reibt sich die Stirn, während Asia Shindelman davon erzählt, wie Goldzähne aus Menschen herausgerissen und Häftlinge zu Tode gepeitscht wurden. Den Wächtern habe es Spaß gemacht, sagt sie. Nie habe sich danach eine deutsche Behörde an sie gewandt, Steven Spielberg dagegen interviewte sie gleich nach ihrem Umzug Anfang der Neunzigerjahre in die USA. Erst 75 Jahre nach Stutthof wurden deutsche Ermittler auf sie aufmerksam.
"Ich muss darauf hinweisen, dass Frau F. sichtbar am Ende ist", sagt jetzt der Richter, die Sitzung wird vertagt. "Danke für Ihre Geduld, Ihr Interesse, Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Menschlichkeit", sagt Asia Shindelman in den USA, dann wird der Bildschirm schwarz. Und vor dem Gebäude wartet das Fahrzeug, das Irmgard F. zurück ins Altenheim bringt.
Sie war nachweislich dort, hat nachweislich mitbekommen, was passierte, hatte sich freiwillig von der Dresdner (Alt)Bank zum Dienst im KZ gemeldet, um die Zulage zu bekommen, hat das System freiwillig unterstützt und nicht gekündigt als sie merkte, was ablief: Sieht nach klarer Beihilfe aus.
An den Aspekt des Geschichtsunterrichts hatte ich bei den bereits aufgeführten Gründen über den Nutzen des Verfahrens noch gar nicht gedacht.