Spoiler
Die offizielle Linie der beiden bürgerlichen Parteien ist ablehnend. Aber mindestens in der CDU gibt es so einige – darunter sogar Landtagsabgeordnete –, die Gespräche mit der AfD fordern.
Und hier beginnt sie, die Parallele, die Jürgen John zeichnet, und die zurück bis in den Februar des Jahres 1924 reicht, hinein in das noch sehr junge Thüringen. Die Hauptstadt des Landes ist nicht Erfurt, das damals noch preußisch ist, sondern Weimar, der Geburtsort der Republik. „Natürlich waren die Umstände völlig verschieden zu heute“, sagt der Historiker. Aber die Gesetzmäßigkeiten, nach denen Gesellschaft und Politik funktionierten, blieben dieselben.
Sie sind chaotisch. Drei Regierungen werden in der kurzen Zeit, in der das Land besteht, im Dauerstreit verschlissen. Die erste – gebildet aus Bürgerlichen und Sozialdemokraten, toleriert von USPD und KPD – hielt ein knappes Jahr. Die zweite, sozialdemokratische Regierung, gestützt von den Kommunisten, überstand zwei Jahre. Die dritte, ein rot-rotes Experiment aus SPD und KPD, wurde durch die Reichsregierung in Berlin ähnlich wie in Sachsen, mit brachialer Gewalt beendet: Die Reichswehr marschierte ein.
Immerhin scheint die erste deutsche Republik langsam ihre erste große Krise hinter sich zu haben. In München ist der Putsch von Adolf Hitler gescheitert und die NSDAP verboten, derweil die örtlichen Aufstände der KPD schnell niedergeschlagen sind. Die Verhandlungen mit Frankreich und Belgien über einen Abzug ihrer Truppen aus dem besetzten Ruhrgebiet laufen. Und dank der neuen Rentenmark mildert sich die Hyperinflation merklich ab.
In Thüringen herrscht im Winter 1924 Landtagswahlkampf. Die SPD-Reste der Regierung sind geschäftsführend im Amt, die KPD-Minister, darunter Theodor Neubauer, befinden sich auf der Flucht. Die bürgerlichen Parteien wie DVP, DDP und der reaktionäre Landbund haben sich im „Thüringer Ordnungsbund“ zusammengeschlossen. Ihre Parole lautet „Links abwählen“.
„Thüringer Ordnungsbund“ gewann Wahlen 1924
Der Bund gewinnt die Wahlen, wenn auch nicht mit absoluter Mehrheit. Insgesamt 48 Prozent vereint er auf sich, während SPD und KPD gemeinsam auf 41,5 Prozent kommen. Die Konservativen bedürfen also der Stimmen des Völkisch-Sozialen Blocks, einer Art Deckorganisation der illegalen NSDAP, die gut 9 Prozent erhalten hat.
Der Nazi-Block erklärt sich bereit, eine Regierung des Ordnungsbundes zu tolerieren. Aber er stellt Bedingungen. Sein Anführer ist Artur Dinter, er hat das hunderttausendfach verkaufte Buch „Die Sünde wider das Blut“ geschrieben, in dem er die Juden ein „antisemitisches Bastardvolk verhängnisvoller Blutmischung“ nennt. Er fordert nun, dass die neue Thüringer Regierung „nur aus deutschblütigen, nichtmarxistischen Männern besteht“.
Man einigt sich, unter deutschen Männern. Am 21. Februar wird mit den Stimmen des Ordnungsbundes und der Völkischen das Kabinett unter dem DVP-Mann Richard Leutheußer gewählt. Damit ist erstmals das Tabu in Deutschland gebrochen: Eine bürgerliche Regierung lässt sich von Völkischen und Nationalsozialisten tolerieren.
Das hat Folgen. Nach nur wenigen Monaten erzwingt die von Nazis gestützte Rechtskoalition den Rücktritt des jüdischen Staatsbankpräsidenten, gegen den zudem wegen Meineids ermittelt wird. Als der Staatsanwalt Kurt Frieders aus Protest die offenkundig konstruierte Anklage niederlegt, wird er jahrelang mit Disziplinarverfahren und Ermittlungen verfolgt, bis er nach Österreich flieht.
„Die völkisch-nationalsozialistische Fraktion setzte ihre Forderungen brachial durch“, sagt Jürgen John. Er zählt auf: die Entlassung republikanisch gesinnter Beamter, die Vertreibung des Bauhauses aus Weimar, die Aufhebung des Redeverbotes für Hitler.
Drei Jahre regierten Nazis indirekt mit
„Damit wurde hier in Thüringen zum ersten Mal der parlamentarische Weg in den Abgrund der späteren NS-Diktatur beschritten“, sagt der Historiker. Die Regierung Leutheußer habe sich „als Türöffner“ erwiesen. 1926 findet in Weimar der erste Reichsparteitag der wieder legalen NSDAP statt.
Drei Jahre regieren die Nazis indirekt mit, danach verlieren sie vorübergehend an Einfluss. Nach den Landtagswahlen 1927 wirkt die extreme Rechte zersplittert: Die NSDAP erhält nur 3,5 Prozent und zwei Sitze; zwei andere völkische Parteien bekommen jeweils nur einen Sitz ab. „Die Lage entspannte sich, weil sich die Republik wirtschaftlich erholte“, sagt Jürgen John. Doch ab 1927 verdichten sich die Anzeichen für die nächste Krise, die dann ab 1929 voll durchschlägt, mit Massenarbeitslosigkeit, Armut, Hunger.
Zumal, die demokratischen Parteien nutzen die Zeit nicht. Weder die KPD noch das bürgerliche Lager wollen mit der SPD zusammenarbeiten, wobei diese Abneigung auf Gegenseitigkeit beruht. Der Versuch, eine „Regierung der Mitte“ zu bilden, die sich von der NSDAP mitwählen lässt, scheitert diesmal.
Und so wird Thüringen nur provisorisch von verschiedenen Minderheitskabinetten regiert, bis es im Dezember 1929 zur nächsten Wahl kommt. Jetzt wird die NSDAP mit 11,3 Prozent erstmals zweistellig – und im Januar 1930 offizieller Teil einer deutschen Regierung. In Thüringen hat man sich eben schon an die Nazis gewöhnt. Hitler reist persönlich nach Weimar, um durchzusetzen, dass der Münchner Putschist und verurteilte Hochverräter Wilhelm Frick Innenminister wird.
Damit beginnt in Thüringen der Probelauf für das, was die Nazis später im ganzen Reich exekutieren. Kommunistische Bürgermeister und Lehrer werden ebenso entlassen wie sozialdemokratische Beamte. An der Universität Jena wird das neue Fach Rassekunde unterrichtet. Linke Zeitungen dürfen nicht mehr erscheinen. Autoren wie Erich Maria Remarque kommen in den Schulen auf den Index, Werke von Paul Klee oder Ernst Barlach werden aus den Kunstsammlungen verbannt.
Erste Landesregierung unter der NSDAP bildete sich in Thüringen
Frick stürzt 1931 über einen Misstrauensantrag im Landtag, aber den braunen Vormarsch bremst dies nicht. Bei den Landtagswahlen im Sommer 1932 wird die NSDAP mit 42,5 Prozent stärkste Kraft, das sind gut fünf Prozentpunkte mehr, als die Partei bei den gleichzeitig stattfindenden Reichstagswahlen erhält. Während es in Berlin noch ein halbes Jahr bis zur Machtergreifung Hitlers dauern wird, bildet sich in Thüringen eine der ersten Landesregierungen unter Führung der NSDAP.
Im März 1933, Frick ist inzwischen Reichsinnenminister, werden die Länder gleichgeschaltet. Der Terror hat begonnen. „Es waren andere Zeiten, wir müssen mit Vergleichen vorsichtig sein“, sagt Jürgen John. „Aber wir sollten uns gerade in der jetzigen Situation in Thüringen an die Thüringer Konstellation des Jahres 1924 erinnern.
Aussagen wie „antisemitisches Bastardvolk verhängnisvoller Blutmischung“ wären heute nicht mehr möglich bzw. würden als volksverhetzend sanktioniert.
Aber eben „nur“ aus der Erfahrung heraus.
Man sieht, wie liberal die Weimarer Republik war. Zu liberal.