Eine sehr schöne chronologie über seine Ausfälle. Ich wusste nicht, dass er schon so früh losgelegt hatte
Spoiler
Er hat es wieder getan. Xavier Naidoo, 48, Träger der Goldenen Stimmgabel, der Goldenen Kamera und des Goldenen Aluhuts, hat sich erneut ins Gespräch gebracht.
Das hat der deutsche Sänger mit südafrikanisch-indisch-irischen Wurzeln nicht dem Soul in seiner Stimme zu verdanken, der ihn Ende der Neunzigerjahre mit dem Song "Freisein" berühmt machte und in dem der Bürgerrechtler Martin Luther King zitiert wird.
Seit Mittwoch dreht ein Clip seine Runden im Netz, in dem Naidoo in die Kamera eines Laptops "Ihr seid verlor'n" singt. Weit und breit sei hier kein Mann, der dieses Land noch retten könne. "Hauptsache, es ist politisch korrekt, auch wenn ihr daran verreckt". Und weiter: "Was, wenn fast jeden Tag ein Mord geschieht, bei dem der Gast dem Gastgeber ein Leben stiehlt."
Die von Naidoo im Clip angesprochene "politische Korrektheit" ist ein Ausdruck, der gern von Rechten gebraucht wird, um eine angebliche Sprachzensur anzuprangern. Die Zeile mit dem "Gast" und dem "Gastgeber" lässt sich kaum anders deuten, als dass er hiermit Geflüchtete meint, die "fast jeden Tag" Deutsche ermordeten. Eine Behauptung, die falsch ist und die vor Naidoo AfD-Politiker oder der Täter von Hanau in ähnlicher Form kundtaten.
RTL gab sich irritierenderweise "irritiert" von dem Clip und feuerte Naidoo von seinem Job als Juror bei "Deutschland sucht den Superstar". Irritierenderweise, denn Naidoos neuem Abgesang lag nicht viel Neues zugrunde.
1999, kurz nach seinem Durchbruch, sagte Naidoo dem "Musikexpress", er sei ein "Rassist, aber ohne Ansehen der Hautfarbe". In den folgenden Jahren fiel Naidoo immer weniger durch seinen Gesang auf, immer mehr aber als gut hörbare Stimme, die Verschwörungstheorien über 9/11 verbreitete, darüber "dass al-Qaida nur die CIA ist". Und die Zeilen sang wie "Warum liebst du keine Möse, weil jeder Mensch doch aus einer ist?", die man mühelos als homophob lesen konnte, oder die recht schlicht und recht klar klang wie im Song "Abgrund": "Und jetzt scheiß' ich auf eure Demokratie."
2009 spielte Naidoo im Song "Raus aus dem Reichtstag" mit einer Zeile über "Baron Totschild", der den Ton angebe, auf eine angebliche jüdische Weltverschwörung an. Vor diesem Kontext kann man auch die "Puppenspieler" deuten, von denen Naidoo im Refrain von "Marionetten" singt, einem 2017 veröffentlichten Song der von ihm mitgegründeten Gruppe Söhne Mannheims. Eine Mitarbeiterin der "Amadeu Antonio Stiftung" nannte Naidoo im selben Jahr bei einer Veranstaltung einen Antisemiten, das sei "strukturell nachweisbar".
Was Naidoo seit Jahren im Namen der Popkultur macht, erinnert an das, was die AfD in jüngerer Vergangenheit auf der politischen Bühne vorführt.
Ein Gericht befand, dass man ihn so nicht nennen dürfe. Vor Gericht sagte Naidoo, die Sache mit dem Puppenspieler und dem Antisemitismus "war mir damals nicht bewusst". Sein Sohn trage einen hebräischen Namen. "Ich bin kein Antisemit."
2011 sagte Naidoo, Deutschland sei "immer noch ein besetztes Land". Drei Jahre später, am Tag der Deutschen Einheit, suchte er ein Treffen der Reichsbürger-Bewegung auf, käute dort Verschwörungstheorien wieder. Darauf angesprochen, verwies Naidoo auf sein Engagement gegen rechts, als Teil des antirassistischen Vereins Brothers Keepers etwa, darauf, dass er dafür Morddrohungen bekomme, sagte aber auch Sätze wie: "Ich möchte auf Menschen zugehen. Auch zu Reichsbürgern. Auch auf die NPD. Das ist mir alles Wurst."
Rechte Rhetorik, antisemitische Codes
Wie schafft man es eigentlich, sich als prominente Figur in Zeiten knapper Aufmerksamkeit und eines gesunkenen Vertrauens in Eliten ins Gespräch zu bringen, im Gespräch zu bleiben und möglichst viele, unterschiedliche Öffentlichkeiten zu adressieren?
Zum Beispiel mit einem Wechselspiel zwischen der Rolle des Verfechters einer angeblich unterdrückten Wahrheit und der Rolle des angeblichen Unschuldslamms. Mal Held, mal Opfer. Zum Beispiel mit einem Remix des Satzes "Ich bin kein Rassist, aber…": Das wird man doch wohl noch sagen dürfen. Aber ich bin kein Rassist. Ihr habt mich missverstanden. Aber das, was ich gesagt habe, da ist doch ein bisschen was dran. Aber ich bin kein Rassist.
Was Naidoo seit Jahren im Namen der Popkultur macht, erinnert an das, was die AfD in jüngerer Vergangenheit auf der politischen Bühne vorführt. Es ist ein Schauspiel, das zwischen Grenzüberschreitungen und Dementi oszilliert, das so zum einen verschiedene Bevölkerungsgruppen anspricht und zum anderen vermeintlich Unsagbares nach und nach salonfähig macht - im Fall von Naidoo vermeintlich Unsingbares: Im Söhne-Mannheims-Song "Marionetten" benutzt er, distanzlos, das Wort "Volksverräter".
In der nationalsozialistischen Diktatur war "Volksverrat" ein Straftatbestand, vor ein paar Jahren skandierten Pegida-Anhänger "Volksverräter" bei Demos, gewandt an die Regierenden, AfD-Politiker nahmen den Begriff auf.
Der Clip, der seit Mittwoch seine Runden im Netz dreht, unterstreicht, dass Naidoo Rechtspopulisten nicht nur in der Form, sondern auch im Inhalt nahesteht. Das sieht Naidoo naturgemäß anders. In einem Statement, veröffentlicht auf seinem offiziellen Instagram-Account, heißt es:
"In einer persönlichen Erklärung wendet sich Naidoo gegen absolut falsche Interpretationen seiner Aussagen (…)." (missverstanden)
"Ich setze mich seit Jahren aus tiefster Überzeugung gegen Ausgrenzung und Rassenhass ein." (kein Rassist)
"Auch meine Familie kam als Gast nach Deutschland und hat sich natürlich an Recht und Moralvorstellungen des Gastgebers gehalten. Diese Selbstverständlichkeit sollte für alle gelten - auch wenn nur ein sehr kleiner Teil dies missverstanden hat. Aber gerade dieser kleine Teil belastet alle anderen, die hierdurch in 'Sippenhaft' genommen und durch eine erschreckende Zunahme an Gewaltakten in Gefahr gebracht werden." (doch ein bisschen was dran)
Jemand wie Naidoo ist natürlich nicht im luftleeren Raum Popstar, sondern als Teil der Gesellschaft. Was er macht, dass er das so machen kann, wie er es macht, wirft Fragen auf, die weniger um ihn kreisen als um die um ihn herum:
Wieso darf jemand, der sich in seinem Werk antisemitischer Codes bedient, in Deutschland, per Gerichtsbeschluss, nicht Antisemit genannt werden?
Wieso wurde jemand, der daran glaubt, die Bundesrepublik Deutschland sei ein besetztes Land, überhaupt vom NDR nominiert, die Bundesrepublik Deutschland beim "Eurovision Song Contest" zu vertreten?
Wieso konnte jemand jahrelang in RTL-, Pro7- und Sat1-Formaten mit hohen Einschaltquoten Menschen beurteilen, der zuvor mit menschenverachtenden Anspielungen aufgefallen war?
Wieso bricht ein Prominenter wie Til Schweiger, der sich öffentlich für Geflüchtete eingesetzt hat, jetzt eine Lanze für Naidoo, ohne sich offensichtlich den Clip, um den es gerade geht, angeschaut zu haben ("Das Lied kenne ich nicht.")?
Seit dem Wochenende kursiert ein neuer Clip. In dem Video legt ein Mann - mutmaßlich Xavier Naidoo - nahe, dass "Fridays for Future" vom Antichrist gesteuert werde. Das passt ins Bild des Sängers. Vielleicht geht es aber auch gar nicht um Naidoo. Und auch nicht darum, was man noch wird sagen dürfen.
Es geht darum, was gesagt und gesungen wird. Und es geht darum, wie sich die deutsche Musikindustrie, Radio- und Fernsehsender, Veranstalter, Prominente, Politiker, Journalisten und Fans nun, nach dem "Gast"-und-"Gastgeber"-Clip, zu einem Sänger verhalten, der Millionen Platten verkauft hat, sich scheinheilig gibt, aber dessen Zeilen auch Hass predigen.