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Das klingt paradox: Obwohl die Zahl der Migranten gestiegen ist, haben die Menschen das Gefühl, die Migration nach dem Brexit besser in den Griff zu bekommen?
Bei der politischen Erzählung rund um den Brexit ging es darum, die nationale Kontrolle an allen Fronten zurückzugewinnen. Das Narrativ hat in der Öffentlichkeit funktioniert: Die Briten haben das Gefühl, Migration wieder selbst steuern zu können - auf eine Weise, die damals als EU-Mitgliedstaat angeblich nicht möglich war. Aber letztendlich hat die Kontrolle über diese Entscheidungen nicht den Effekt gehabt, den die Leute sich wünschten. Noch immer mangelt es in der britischen Politik an faktenbasierten Diskussionen über Migration. Aber die Debatten in der britischen Wirtschaft sind differenzierter geworden. Denn Arbeitgeber, Universitäten und generell alle Bürger leiden aus wirtschaftlicher Sicht stark unter den Folgen des Brexits und der verschärften Migrationspolitik.
Wie denkt die britische Bevölkerung denn generell über den Brexit? Gibt es die Tendenz, die Zusammenarbeit mit der EU wieder vertiefen zu wollen?
Wir haben im ECFR nach Trumps Amtsantritt eine Umfrage zu diesem Thema gemacht. Einerseits sagt eine Mehrheit der Briten, der Brexit sei eine schlechte Sache für das Land gewesen. Andererseits akzeptiert die Mehrheit der Briten, dass die Entscheidung nicht mehr völlig rückgängig gemacht wird. Das Ergebnis der Umfrage zeigt auch: Generell befürwortet eine große Mehrheit inzwischen eine verstärkte Zusammenarbeit mit der EU. Die Briten wollen den Brexit in der Praxis rückgängig machen, ohne aber formell wieder der EU beizutreten. Auch das klingt vielleicht widersprüchlich. Aber ich denke, die Briten sind erschöpft von der Debatte über den Brexit. Sie haben nicht das Gefühl, ein erneuter, formeller Beitritt Großbritanniens zur EU sei der Mühe wert.
Da bei dem Gipfel am 19. Mai ein Verteidigungspakt zwischen der EU und Großbritannien unterschrieben werden soll - inwieweit sind die Briten bereit, an der Verteidigung Europas mitzuarbeiten?
Da komme ich noch einmal auf die Ergebnisse unserer ECFR-Umfrage zurück. Großbritannien ist eines der fortschrittlichsten Länder im europäischen Raum, wenn es darum geht, den Krieg in der Ukraine als reale Bedrohung für die gesamte europäische Sicherheit zu erkennen. Die Briten verstehen: Dieser Krieg ist nicht nur etwas, bei dem wir moralisch die richtige Entscheidung treffen sollten, sondern etwas, das uns in Europa direkt bedroht. Die daraus resultierende Akzeptanz der Notwendigkeit, mehr für Verteidigung auszugeben, ist im Vereinigten Königreich im Vergleich zu vielen EU-Mitgliedstaaten hoch. Aber es gibt Grenzen. Die Briten wollen zum Beispiel nicht mehr Geld in die europäische als in die nationale Verteidigung investieren. Und auch von Ideen wie einer europäischen Armee ist die Mehrheit nicht begeistert.
Sie erwähnten zu Anfang bereits den Streit zwischen Paris und London wegen der Fischereirechte. Der Zwist verzögert die Gespräche über den Verteidigungspakt. Könnte der Pakt am Ende sogar platzen, wegen dieses Streits?
Das denke ich nicht. Dafür steht zu viel auf dem Spiel. Hier lässt sich eine Parallele ziehen zum Mercosur-Abkommen, das die EU geschlossen hat, obwohl Frankreich aus innenpolitischen Gründen strikt dagegen war. Durch Trumps Zollpolitik wurde das Abkommen zu einer so großen Notwendigkeit, dass der Widerstand einzelner Mitgliedstaaten nicht mehr so wichtig war. Auch der Verteidigungspakt zwischen London und Brüssel wird durch Trumps Drohungen an die Nato-Partner zu so einer Notwendigkeit. Die europäischen Bürger sind jetzt ziemlich verängstigt. Der Verteidigung wird in der öffentlichen Meinung inzwischen eine viel höhere Bedeutung beigemessen. Deshalb wird es ein Einsehen geben, dass im Streit um die Fischereirechte ein Kompromiss gefunden werden muss.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste am Donnerstag nach London, um dort über eine mögliche Zusammenarbeit im Energiesektor zu sprechen. Welche Form der Kooperation ist denkbar?
Das Thema des Gipfels der 60 Länder, die am Donnerstag bei der Konferenz der Internationalen Energieagentur (IEA) teilnahmen, war die Energiewende. Die USA hatten keine ranghohen Vertreter zur Konferenz geschickt, weil die Trump-Regierung von einer Verpflichtung zur Dekarbonisierung der Energiequellen abgerückt ist und wieder auf fossile Brennstoffe setzt. China war gar nicht anwesend. Dabei ist China für den weltweiten Klimaschutz entscheidend, sowohl aufgrund der hohen Emissionen, die es produziert, als auch in Bezug auf seine zentrale Bedeutung für grüne Technologien. Die Konferenz war ein Versuch, die Dekarbonisierung wieder voranzubringen. Ich hoffe, dass das Vereinigte Königreich und die EU bei der Dekarbonisierung zusammenarbeiten und weltweit eine Führungsrolle einnehmen werden.
Welche Formen der Zusammenarbeit sind noch denkbar zwischen London und Brüssel?
Großbritannien wurde von Trumps Zollpolitik genauso hart getroffen wie die EU. Das schafft eine Art von Wettbewerbsgleichheit und gemeinsame Interessen im Umgang mit den USA. Deshalb wird es voraussichtlich verschiedene Formen der wirtschaftlichen Kooperation geben. Außerdem werden London und Brüssel gemeinsam den europäischen Pfeiler der Nato zum Leben zu erwecken, auch, um Trump die Bereitschaft zu zeigen, die Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen. Das alles wird in ein multilaterales System münden, bei dem die EU und Großbritannien auch bei der internationalen Entwicklungshilfe zusammenarbeiten, nachdem Trump US-Aid gestoppt hat.
Mit Susi Dennison sprach Lea Verstl
Quelle: ntv.de