@Noldor Die Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts unterscheidet zwischen Sozialhilfe und Nothilfe. Sozialhilfe sollte das soziale Existenzminimum abdecken und somit alle wesentlichen Grundbedürfnisse befriedigen. Die Nothilfe hingegen deckt nur das reine Überleben ab (Verpflegung, Kleidung, nächtliche Unterkunft und medizinische Notversorgung). Die Nothilfe ist für jedermann (also auch für illegal eingereiste Ausländer oder etwa gestrandete Urlauber) durch die Bundesverfassung garantiert, darf daher laut Bundesgericht in keinem Fall verweigert oder eingeschränkt werden. Die Nothilfe bildet damit in der Schweiz die unterste Grenze dessen, was einem Menschen zusteht. Dies setzt Kürzungen bei der Sozialhilfe Grenzen nach unten. Nach dem eben Ausgeführten darf Sozialhilfe nie tiefer liegen als Nothilfe, muss aber, das sie eine über die Nothilfe hinaus gehende Leistung ist, in aller Regel deutlich höher liegen. Das bedeutet, dass jemandem die Sozialhilfe auch bei gröbster Verweigerungshaltung nicht ganz oder zu wesentlichem Teil entzogen werden kann. In der Praxis haben sich als Sanktion gegen unkooperative Sozialhilfeempfänger Kürzungen der Sozialleistungen um etwa 10% eingespielt.
In Deutschland liegt die Sache ein wenig anders: ALG II, vulgo auch Hartz IV genannt, unterliegt einer strengen Mitwirkungspflicht. ALG II können nur erwerbsfähige Personen erhalten. Diese sind verpflichtet, jedes zumutbare Arbeitsangebot anzunehmen, sich selbst um ein Einkommen zu bemühen, dem Jobcenter alle notwendigen Informationen zu geben usw. Bereits einzelne Unterlassungen können eine Sanktion auslösen, letztlich ist es möglich, eine "Vollsanktion", d. h. die gänzliche Einstellung aller Leistungen zu verfügen, wenn jemand wiederholt und in schwerer Weise unkooperativ ist. Einige unserer "Kunden" sind bereits aus diesen Gründen mit einer Vollsanktion belegt worden.
Anders als in der Schweiz liegt in Deutschland bisher keine verbindliche Rechtsprechung über die Verfassungswidrigkeit dieses Systems vor. Von verschiedenen Seiten ist immer wieder behauptet worden, das Sanktionen-System, namentlich der völlige Entzug aller Leistungen, widerspreche den Garantien des Grundgesetzes. Meines Wissens läuft zur Zeit ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, in dem es ausdrücklich um diese Frage geht. Vorgelegt ist die Frage von einem Sozialgericht worden, das die Verfassungswidrigkeit zumindest der Vollsanktion vermutet. Wie in solchen Verfahren üblich hat das Verfassungsgericht fachkundige Stellen zur Stellungnahme eingeladen. Erste davon wurden bereits veröffentlicht. Die Auswertung dieser Stellungnahmen dürfte einige Zeit beanspruchen, doch in einigen Monaten dürfte mit einem Entscheid zu rechnen sein, der nun endlich verbindlich klärt, ob und in welchem Umfang Sanktionen, die im Entzug von Leistungen bestehen, mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Zumindest bis dahin gilt die jetzige Regelung natürlich unverändert weiter.