Erdogans Wahlerfolge beruhten zum guten Teil immer auf seiner erfolgreichen Ansprache religiöser Gefühle der Landbevölkerung, denen auch die säkularen „Auswüchse“ in Städten wie Istanbul ein Dorn im Auge wahren.
Mit einer großartigen Unterscheidung von Religion und Tradition hielt er sich dabei nie auf.
Das Beschwören eines „Religionskrieges“ hört sich nach der Verzweiflung an, möglicherweise gerade diese für ihn wichtigen Reihen zum Referendum nicht weiter fest geschlossen halten zu können.
Bei allen Unterdrückungs- und Einschüchterungsmaßnahmen in Sachen Pressefreiheit, Zuweisung von Posten bei Militär, im Justiz- und Beamtenapparat etc. nach Parteihörigkeit, gibt es immer noch eine recht aktive Opposition in der Türkei.
Nebenbei: Für die sieht das Leben mitunter recht trübe aus. Die Stufe der Repressionen hat schon seit längeren die persönliche Ebene erreicht. Nachbarn, die peinlich darauf achten ob den, durch die Regierung per Massen-sms verbreiteten, Auffordungen nachgekommen wird sich zu einer Pro-Erdogan einzufinden, Hinweise von Arbeits- und Auftraggebern, dass die Bedingung um miteinander ins Geschäft zu kommen eine Löschung regimekritischer Äußerungen auf dem Facebookprofil sei, sind tägliche, unheimliche, Realität geworden.
Das für autokratische Systeme typische Klima von Angst und Unsicherheit läßt einstmals offene Gespräche unter Freunden verstummen und äußert sich auch in Form banaler, nichtstaatlicher, Gewalt, die im Bewusstsein ausgeübt wird, aufgrund der „richtigen“ Einstellung von Sanktionen befreit zu sein. Wie schnell eine liberale, weltoffene und städtisch geprägte Gesellschaft auch im 21Jhdt. verrohen kann, berichten mir regelmäßig Freunde aus Istanbul. Etwa am Beispiel einer Frau, die in einem Bus von einem fremden Mann verprügelt wurde, weil dieser sich an der Rocklänge der Frau störte. Keiner der anderen Businsassen griff ein. Ein Verhalten, ganz besonders das der Mitfahrer, das vor noch ganz kurzer Zeit in Istanbul undenkbar gewesen wäre.
Genausowenig, wie ich dieses Einzelbeispiel als Vorlage für ein ungerechtfertigtes Islam-Bashing missbraucht sehen möchte,
sehe ich hinter den Äußerungen Erdogans („Religionskrieg“) eine besondere, religiöse, Motivation.
Ja, auch er kommt aus Kreisen, die einen eher naiven Umgang mit Glauben pflegen. Deshalb kennt er Bedürfnisse und Lebenswelt wichtiger Teile seiner Wählerschaft ziemlich genau. Diese zu bedienen ist aber einem nüchternen, politischen, Kalkül geschuldet.
Nicht nur an diesem Gebrüll kann man erkennen, wie unsicher sich Erdogan eines Ergebnisses in seinem Sinne ist.
Wie unsicher, zeigt schon die Tatsache, dass ein tief in die Rechtsstaatlichkeit eingreifender Schnitt mit einer lapidaren, einfachen, Mehrheit legitimiert werden soll. Bei dem Referendum geht es nicht um die Frage, ob eine Umgehungsstraße nördlich oder südlich an einem Dorf vorbeigeführt werden soll.
Wer die Mehrheit, angeblich das ganze türkische Volk, sicher hinter sich weiß, könnte da die Messlatte schon etwas höher legen und müsste auch keinen äußeren, konstruierten, Feind bemühen, der ihm die Wähler zutreiben soll.